Der spanische Hof, ein Narrenhaus. Hier hat jeder einen Tic: Die einen zucken spastisch, die anderen kratzen sich die Haut wund, wieder andere sind Geschwister von Zappelphilipp. So jedenfalls zeigt es die Produktion von „Der Zwerg“ an der Oper Graz.
Der Einakter von Alexander Zemlinsky aus 1922 frei nach Oscar Wildes „The Birthday Of The Infanta“ ist ein tragisches Märchen, in dem Prinzessin Donna Clara ein kurioses Geburtstagsgeschenk erhält: einen Zwerg aus Fleisch und Blut. Der aber will nicht bloß spaßiges Spielzeug sein und hofft auf echte Liebe der Prinzessin. Das Lachen der Höflinge missdeutet der Aussätzige als Freude und überhört den Spott dahinter, weil er glaubt, ein strahlender Held zu sein. Denn noch nie hat er sich im Spiegel gesehen. Bis er zum Narcissus der Scheußlichkeit verdammt wird.
Das Drama steuert unweigerlich auf die Katastrophe zu. Zemlinskys spätromantische Musik mit etlichen Brüchen und Aufwühlungen ist die zitternde Kompassnadel dorthin, eine tönende Traumdeutung des nahenden Albtraums für den Zwerg, dem der Tscheche Aleš Briscein mit metallischem Tenor mehr und mehr Profil verleiht. Wilfried Zelinka überzeugt als herrischer Zeremonienmeister Don Estoban. Tatjana Miyus zeigt einmal mehr ihre stimmlichen Stärken, die Hinterfotzigkeit der Infantin könnte aber deutlicher sein. Und der Wiener Paul Esterhazy setzt in seiner detailreichen Inszenierung bewusst Frage- statt Ausrufezeichen: Was ist Feind-, Trug-, Selbstbild? Sind wir alle versehrt? Verunsichert? Klein? Sind wir so, wie wir uns sehen oder die anderen?
Schlüssige Verzahnung
Esterhazys ursprüngliche Idee war es, den zweiten Einakter nahtlos anzufügen. Die Pause aber tut dem Bogen keinerlei Abbruch. Er wird so überraschend wie schlüssig weitergespannt. Mit der reduzierten, stimmigen Bühne von Mathis Neidhardt gelingt die Verzahnung mit Luigi Dallapiccolas „Der Gefangene“ aus 1949 auf verblüffende Art – das Spiel der Spiegelung kann weitergehen.
Ist es im ersten Teil ein Röntgenbild von Velazquez’ „Hoffräulein“, das wie von einem Leichentuch auf das Geschehen schaut, so droht im zweiten Teil El Grecos Großinquisitor de Guevara im Hintergrund der nächsten Außenseitertragödie: Ein Mann kauert im Kerker. Vor Augen nur die Dunkelheit. Und den sicheren Tod. Bis ihm ein Wächter Hoffnung als Gift ins Ohr träufelt: Er werde für ihn die Tür offen lassen. Doch dann muss der Häftling erkennen: Hoffnung ist die ärgste Folter.
„Ich bin nicht so naiv zu verkennen, dass das Individuum in totalitären Regimes machtlos ist. Nur durch die Musik kann ich meine Empörung ausdrücken“, sagte Dallapiccolla einmal. Er tat es gerade in „Der Gefangene“ auf hochdramatische Art. Seine gemäßigte Zwölftonmusik, durchwirkt etwa mit trostschimmernden Chorälen, ist hier die Klang gewordene Utopie der Freiheit, die im Gefangenen keimt – Markus Butter gibt diesen, auch darstellerisch, sehr beeindruckend. Die Estin Aile Asszonyi, schon im „Zwerg“ im Einsatz, liefert als dessen verzweifelnde Mutter ein kraftvolles Hausdebüt. Und Manuel von Senden ist auch als Wächter/Inquisitor wieder Hausgarant für klare Präsenz.
Die Grazer Philharmoniker, gerade zur Zeit überproportional im Einsatz, zeigen sich bezüglich Stilsicherheit und Wandlungsfähigkeit weiterhin in Hochform. Und, man wiederholt sich gern: Dirk Kaftan wird als Leidenschaftler für das Repertoire und Verlocker zu Raritäten gleichermaßen abgehen.
Michael Tschida