Kapitäne gibt es in Venedig viele. Diese Woche steuert jedoch ein besonderer sein Schiff in die Lagune. “Io Capitano” von Matteo Garrone erzählt die Geschichte des Teenager Seydou, der die weite Reise vom Senegal nach Europa antritt und zum Kapitän des Flüchtlingsbootes nach Italien auserkoren wird. Ein berührendes Drama mit dem kräftigem Stil eines Abenteuerfilms, das sich der grausamen Realität seiner Thematik nicht verschließt, samt arger Szenen in der Wüste und im libyschen Gefängnis. So wie Saydou im Film eine eigene Zukunft im Norden sucht, richtet das europäische Kino damit den Blick auf die Welt außerhalb seiner tödlich-strengen Grenzen. Denn neben “Io Capitano” widmet sich auch die Grande Dame des polnischen Kinos, Agnieszka Holland, in ihrem beeindruckenden schwarz-weiß Drama “Zielona Granica - Green Border” dem Flüchtlingsthema. Anders als Garrone erzählt sie mit eindeutiger Haltung aus mehreren Perspektiven über die Ostgrenze der EU. Einer syrischen Familie, einer frischgebackenen Flüchtlingshelferin und einem Grenzwachmann widmet sie ihren intensiven, zweieinhalbstündigen Film. Mit dokumentarischer Kamera und penibel recherchierten Ereignissen holt Holland die grausame Wirklichkeit des europäischen Grenzpolitik in ihren Spielfilm. In Polen bekam sie dafür Kritik. Der Justizminister verglich ihren Film mit Nazi-Propagande.

Die 74-jährige jüdische Holland, Präsidentin der europäischen Filmakademie und u.a. Regisseurin mehrerer “House of Cards” Folgen, quittierte das in Venedig mit einem gepflegten “Fuck you” und der Ankündigung einer Verleumdungsklage. Für die Polen-Premiere in zwei Wochen erwartet sich die Regisseurin durchaus Einschüchterungen. Auch tatsächliche Gewalt auf Basis des vergifteten Klimas der rechten Regierung gegen Künstlerinnen wie sie sei durchaus möglich.

Dem Wettbewerb von Venedig geben die beiden starken, eigenwilligen Flüchtlingsgeschichten eine politische Note, die in den glamourösen Filmen der ersten Festivalwoche noch fehlte. Denn auch die Amerikanerin Ava DuVernay hat mit dem hybriden “Origin” ein eindeutiges Statement gesetzt, das auch filmisch weißt, was es will. Das Biopic der Autorin Isabel Wilkerson und Making-of ihres Sachbuchs “Caste: The Origins of Our Discontents” ist eindeutig auf ein breiteres Publikum ausgerichtet und arbeitet geschickt mit emotionalen Spielszenen und viel Musik. Der Film wird seine volle Wirkung wohl erst im amerikanischen Kontext entfalten, auch wenn er auf den Spuren des Buches die Parallelen zwischen Holocaust, US-Rassismus und indischem Kastensystem erforscht. Filmisch folgt DuVernay ihrem Oscar-nominierten Biopic “Selma” und ihrer Doku “13th”.

Drei Tage vor der Verleihung der Löwen positionieren sich damit noch weitere preiswürdige Filme rund um dem Topfavoriten “Poor Things”. Es bleibt also spannend am Lido von Venedig.