Als Debütregisseurin einen Produzenten wie Oscarpreisträger Barry Jenkins („Moonlight“) hinter sich zu haben, ist schon beeindruckend: Doch die schottische Drehbuchautorin, Regisseurin und Produzentin Charlotte Wells kann nicht nur mit großen Namen auf der Produktionsliste aufwarten, sie liefert mit „Aftersun“ auch filmisch eine herausragende Leistung. Die Geschichte eines Vater-Tochter-Duos und eines Sommers voller Erinnerungen und Emotionen geht unter die Haut, transportiert das Publikum durch Raum und Zeit in die eigene Kindheit und lässt einen reflektieren, mit welchem Blick man seine Eltern damals und heute betrachtet. Callum (Paul Mescal), ein geschiedener Vater Anfang 30, und seine Tochter Sophie (Francesca Corio) machen Ende der 1990er Urlaub in einem preisgünstigen türkischen Ferienort. Das ist in etwa der gröbere Handlungsumfang, der die Zuschauenden tagein, tagaus begleitet, teils eingefangen mit einer alten DV-Kamera, teils als geradlinige Handlungsepisoden, teils in fantastischen Traumsequenzen oder teils auch als Erinnerungen in der Zukunft.

Es ist ein Film im Film, den die ältere Sophie (Celia Rowlson-Hall) auf ihrem Fernseher wie auf einer Spurensuche seziert. Denn in „Aftersun“ geht es um idealisierte Kindheitserinnerungen, um Bedeutungen, die damals nicht da waren, nun enthüllt, neu interpretiert werden. Es werden Fragen gestellt wie: Wer war mein Vater? Was habe ich nie an ihm verstanden?


Charlotte Wells bietet eine in einer Zeitkapsel des letzten Millenniums gefangene Stimmung voller Ruhe, eine Zärtlichkeit des Zwischenmenschlichen sowie die Rauheit der emotionalen Komplexität. Inspiriert von ihrem eigenen sehr jungen Vater, der jung verstarb, widersetzt sie sich jedoch der Verführung, diesen Film allzu autobiografisch aufzuziehen, und legt die Interpretation vor allem in die Hände ihrer Darsteller.

Der Ire Paul Mescal sticht mit seiner teils distanzierten, doch stets emotional aufgeladenen Darbietung heraus. Sein Weltschmerz, wenn er abends weinend in den Nachthimmel blickt, bedarf keiner weiteren Erörterung. Das Gefühl transzendiert durch die verschachtelten Ebenen, mit denen Wells erzählt. Ebenso eine Entdeckung ist die neunjährige Francesca Corio, die mit ihrer liebevollen, altklugen Art manchmal wie die Reifere der beiden wirkt. Wir lieben die Menschen, die uns am nächsten stehen. Aber – davon erzählt der Film auch unverblümt – wir werden sie nie ganz verstehen.

Bewertung: ****