WAS DEIN HERZ DIR SAGT - ADIEU, IHR IDIOTEN!
Bewertung: ***

Was tun, wenn die Sanduhr des Lebens abzulaufen droht? Eine Frage, die Suze (Virginie Efira) beschäftigt, als bei ihr Krebs im Endstadium diagnostiziert wird. Vor ihrem Tod will die 43-jährige Friseurin ihren Sohn ausfindig zu machen, den sie vor vielen Jahren zur Adoption freigegeben hatte. Tatkräftige Unterstützung bekommt sie von einem vom Arbeitsalltag geplagten IT-Spezialisten und einem blinden Archivar. Die Suche erweist sich als Sisyphusarbeit. Schauspieler und Filmemacher Albert Dupontel ließ seine neueste Regiearbeit von Terry Gilliams Dystopie-Klassiker "Brazil" inspirieren – das "Monty Python"-Urgestein legt selbst einen amüsanten Gastauftritt hin. Dupontels eigener Film wird den großen Ambitionen hingegen nicht immer gerecht. Am besten funktioniert der kunterbunte 90-Minüter als Satire auf die dröge Welt der Bürokratie. Kurzweilig, aber überladen.  (pog)

DIE SCHRIFTSTELLERIN, IHR FILM UND EIN GLÜCKLICHER ZUFALL
Bewertung: ****

Hong Sang-soo beobachtet in seinem Werken für gewöhnlich lieber Figuren bei banalen Alltagshandlungen, anstatt auf Spielfilm-Dramaturgie im klassischen Sinne zu bauen. In seiner jüngsten Arbeit, ein Produkt des ungewissen Lockdown-Trubels der Pandemie, bleibt der koreanische Autorenfilmer dem etablierten Minimalismus treu. Im Vordergrund steht eine erfolgreiche Schriftstellerin (Lee Hyeyoung), die unter die Filmemacherinnen gehen möchte. Das geplante Vorhaben wird durch eine Schreibblockade erschwert. Begleitet von grobkörnigen Schwarz-Weiß-Bildern kommt es zu Gesprächen, in denen über künstlerisches Schaffen und das Leben schwadroniert wird – unter anderem mit einem Regisseur und einer Schauspielerin (gewohnt ausdrucksstark: Kim Min-hee).  Eine philosophische Reflexion über den Wert von Zufallsbegegnungen und die poetische Kraft des Kinos. Lebhaft und selbstreferenziell. (pog)

IT WORKS II
Bewertung: ****

Ende der Neunzigerjahre drehte Fridolin Schönwiese einen Kurzfilm über drei Volksschulkinder mit körperlichen wie auch geistigen Beeinträchtigungen. Mehr als zwei Jahrzehnte später hat sich der Regisseur erneut mit Gerald, Michael und Valentin zusammengetroffen. Aus den Kindern von damals sind zielstrebige Erwachsene geworden, die trotz ihrer Handicaps die Hürden des Alltags mit Bravour bewältigen. Der Tätigkeitsbereich deckt mittlerweile ein breites Spektrum ab – vom ÖBB-Mitarbeiter bis hin zum Youtuber. Empathisch und frei von Betroffenheitspathos porträtiert die Doku drei Menschen, die sich von ihrem Krankheitsbild nicht unterkriegen lassen. Negative Stereotype werden gekonnt abgebaut. Lebensbejahend und berührend.

ANIMA - DIE KLEIDER MEINES VATERS
Bewertung: ****

Als Uli Deckers Vater stirbt, befinden sich im Nachlass nicht nur Tagebücher und Familienfotos, sondern auch eine Kiste voller Stöckelschuhe. Ihr Vater kleidete sich heimlich als Frau. Die Doku "Anima – die Kleider meines Vaters" erzählt von einem geheimen Doppelleben voller Scham, Schuld und Versteckspiel im katholisch bürgerlichen Bayern. Das transgenerationale Trauma pflanzt sich in der Tochter auf eigene Weise fort und sie fragt sich, "warum die Grenze zwischen männlich und weiblich so streng bewacht wird". Der Dokumentarfilm gewann am Max-Ophüls-Festival den Publikums- und Dokumentarfilmpreis und wurde letzte Woche auch beim Berliner Pornfilmfestival vorgestellt. Der lebensbejahende Film ist eine bewegende, zutiefst persönliche Familiengeschichte und holt eine verpasste Befreiung nach. Mit viel Witz in Wort und Bild, netten Animationen, Fotos, Gesprächen und Tagebuch-Zitaten fügt die Regisseurin eine humanistische Biografie ihres Vaters zusammen, der nun endlich offen sprechen kann. (maw)

MUTZENBACHER
Bewertung: ****

Der Casting-Aufruf zum Film über Josefine Mutzenbacher war schlicht: "Gesucht werden männliche Mitwirkende zwischen 16 und 99 Jahren. Dreherfahrung nicht vorausgesetzt", hieß es in einer Annonce. 150 Männer meldeten sich, rund die Hälfte erhielt eine Einladung auf die abgewetzte rosa Couch. Assoziationen zur Tradition der "Besetzungscouch" im Film- und Theater-Business sind offensichtlich.
Der Auftrag: Texte aus dem 1906 anonym publizierten und bis heute wegen seiner pornografischen Darstellungen mit einer Minderjährigen kontrovers diskutierten Roman "Josefine Mutzenbacher oder Die Geschichte einer Wienerischen Dirne von ihr selbst erzählt" zu lesen. Es blieb nicht dabei, denn die schlagfertige Interviewerin Ruth Beckermann verwickelt die Burschen und Männer in Gespräche über Sexualität, Intimität, Pornografie, Männlichkeitsbilder, Tabus, Ängste, Scham, Übergriffe, Erregung und Erotik. Ein Glücksfall von einem Film. (js) Lesen Sie hier eine ausführliche Kritik.