Vom neunten Stock des Intercontinental liegt einem Wien zu Füßen. Dort stellte sich Renate Reinsve bei der Viennale im Herbst gut gelaunt den Filminterviews zu „Der schlimmste Mensch der Welt“ – nun in den Kinos. Für ihre Verkörperung einer liebeshungrigen Endzwanzigerin erhielt die 34-Jährige 2021 die Silberne Palme in Cannes.

Es war Ihre erste Kino-Hauptrolle. Davor standen Sie für „Oslo, 31. August“ schon einmal für Joachim Trier vor der Kamera. Neun Tage lang – für den Satz „Let’s go to the Party!“. Was dauerte so lange?
RENATE REINSVE: Wir brauchten den Sonnenaufgang; genauer gesagt jenes Zeitfenster, wenn die Nacht in den Morgen übergeht. Es dauerte deswegen so lange, weil es dieses besondere Licht jeweils nur für eine halbe Stunde gab.

Da beschloss der Regisseur, Sie für eine Hauptrolle zu besetzen?
Er sagte damals, dass ich eine große Rolle bräuchte. Ich antwortete: „Was immer passieren mag.“ In zehn Jahren passierte nichts. Also schrieb er mit Eskil Vogt diese Rolle für mich. Ich spielte schon lange Theater und machte TV-Comedy. Er wollte eine Person, die gleichsam Zugang zur Tragödie und komödiantisches Talent hat. Und er wusste, dass ich beides kann.

So wie das Leben aus beiden Seiten besteht, oder?
Ja, wir brauchen die Komödie, um mit der Tragödie umzugehen. Manchmal ist die Tragödie sogar lustig, weil sie so tragisch ist. Es gibt Höhen und Tiefen – wie im wirklichen Leben.

Zwei Männer haben diese Frauenfigur kreiert. Konnten Sie sich damit gleich identifizieren?
Die Komplexität der Figur beim Lesen des Buchs gefiel mir sofort. Die männliche Sicht auf Julie hat mich anfangs nervös gemacht. Aksel (Anm. ihr älterer Partner) wird als der Starke in der Beziehung beschrieben. Er kann Situationen analysieren, seine Gefühle in Worte fassen. Das provozierte mich. Julie ist irritiert, handelt emotional. Das war im Buch als Schwäche angedeutet. Es beweist aber viel Stärke, sich verletzlich zu zeigen. Das habe ich eingebracht.