Was würde denn Eleanor Marx über ihre eigene Filmbiografie sagen?
SUSANNA NICCHIARELLI: Kino gab es damals natürlich noch nicht, aber Eleanor Marx glaubte an die befreiende Kraft von Kunst und Literatur, zum Beispiel bei „Madame Bovary“ oder Ibsens „Nora“. Sie glaubte, dass Geschichten mit und über Frauen einen positiven Effekt auf die Gesellschaft haben, weil das Publikum eine andere Perspektive einnehmen kann. Und sie war sich sicher, dass Geschichten über diese interessanten Frauenfiguren der Emanzipation helfen können.

Würde eine autorisierte Biografie von Eleanor Marx anders ausschauen als Ihr Film?
Nein, ich war ihrem Leben sehr treu und habe sehr wenig über sie erfunden. Die meisten Dinge kommen aus ihren Briefen und Texten. Ich glaube, sie würde es sinnvoll finden, dass ihr Leben erzählt wird. Denn man muss nicht unbedingt von einer perfekten Frau erzählen. Frauen müssen oft entweder perfekte Heilige oder total falsch sein. Aber die Geschichte einer komplexen Frau mit Fehlern wie Eleanor ist sogar wichtiger, weil es aus den Klischees herausführt.

Wie kamen Sie von der Recherche zu einem verfilmbaren Drehbuch?
Wenn man ein Biopic macht, ist die Versuchung zunächst groß, alles zu erzählen. Aber dann ist auch gleichzeitig nichts richtig interessant. Man muss auswählen. In der Recherche wird eine Person lebendig, aber ab einem gewissen Punkt geht es um einzelne Momente aus einem Leben. Das interessiert mich viel mehr als der Plot. Ich mag den Raum zwischen den Ereignissen.

Die moderne Musik ist sehr auffällig im Kontext des 19. Jahrhunderts. Wie kam’s dazu?
Ich wusste, dass es für Eleanors Geschichte Punk-Musik sein muss, weil Punk die Musik der Verzweiflung und der Revolution ist, Leben & Tod zugleich! Und Eleanors Geschichte hat all diese Elemente.


Wie haben Sie sich zusammen mit Hauptdarstellerin Romola Garai der Figur genähert?
Wenn es um eine historische Figur geht, versucht man zusammen mit der Darstellerin ein Leben zu verstehen und zu interpretieren. Warum hat sie das da geschrieben in diesem Brief? Warum hat sie so und so gehandelt? Das war eine gemeinsame Arbeit mit Romola Garai. Sie ist auch quasi eine antike Schönheit und schaut wirklich wie jemand aus dem 19. Jahrhundert aus. Ich mochte sofort, wie magnetisch und ironisch sie spielt, als ich sie in einer BBC-Serie als Jane Austens „Emma“ sah. Sie ist eine sehr intelligente Frau, die genau wusste, welche Risiken die Figur der Eleanor Marx mit sich bringt, und sie war sofort bereit, sich allen Widersprüchen zu stellen.

Wie nähert man sich überhaupt in einer Filmbiografie dem Leben eines Menschen an?
Meine liebsten Biopics sind gar keine Biografien. Etwa „Last Days“ von Gus van Sant über Kurt Cobain oder Danny Boyles Film über Steve Jobs. Biopics sind interessant, wenn sie das Leben einer Person fragmentieren und sich auf bestimmte Aspekte konzentrieren. Anders als so viele Rockstar-Filmbiografien, die oft sehr ähnlich sind. Und das gleiche gilt für Historienfilme, auch dort wird es erst interessant, wenn das Klischee gebrochen ist.


Welchen Herausforderungen würde sich Eleanor Marx heute stellen und was sollten wir über sie wissen?
Es ist nicht so wichtig, Eleanor selbst genau zu kennen. Aber sie gehörte zu einer Generation von Menschen, die bereit waren, die Welt zu ändern und gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen und ihr Leben dafür zu geben. Heute würde sie für die kämpfen, die wirklich den Preis dieser Pandemie zahlen müssen. Ihre Geschichte gibt uns viel Kraft für die Gegenwart und all die Widersprüche, in denen wir leben. Sie erinnert uns daran, wie kompliziert es ist, wenn unsere Ideen in unser eigenes Leben kommen. Wie kompliziert und voller Widersprüche das Leben eines revolutionären Menschen ist.