In Cannes muss man zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Denn nur mit einem Quäntchen Glück bekommen Fans während des Festivals von ihren favorisierten Stars ein paar Sekunden Aufmerksamkeit: für ein Autogramm vor einem der Luxushotels an der Croisette. Oder, wer sich mit einer festgeketteten Leiter einen heiß begehrten Platz erkämpft hat, für ein Selfie am roten Teppich. Was für ein Ereignis wäre es aber, wenn man in einer der zahlreichen Gassen in einem Restaurant sitzt und auf einmal Penélope Cruz für eine Weile an den Tisch käme und mit einem Glas Wein anstieße? So ähnlich passiert es in einer Szene in Ira Sachs‘ Wettbewerbsfilm „Frankie“, in dem Isabelle Huppert in der Titelrolle nachdenklich und charmant eine berühmte Filmschauspielerin verkörpert, die sich während eines Spaziergangs im Portugalurlaub plötzlich im Park bei der Feier eines 88. Geburtstages am Tisch wiederfindet. Eigentlich aber hat sie im portugiesischen Sintra ein letztes Mal ihre Liebsten um sich versammelt.

Huppert mit US-Regisseur Ira Sachs auf dem roten Teppich
Huppert mit US-Regisseur Ira Sachs auf dem roten Teppich © AP

Zwar steht Frankie dabei im Zentrum und gleichsam haben alle Figuren eigene kleine Geschichten, die durch eine leichte Sommerbrise verbunden scheinen – und doch hängt auch eine Traurigkeit in der salzigen Meeresluft. Schließlich geht es um nicht mehr und nicht weniger als die Liebe und deren Ende, um das Leben und dessen Ende. „Auch wenn der Film im Kern von Krankheit und Tod handelt, ist er niemals melodramatisch. Es gibt keine äußeren Anzeichen dafür“, sagte Huppert in Cannes, kurz bevor sie für eine Theateraufführung schnell zurück nach Paris musste. „Für mich bot das die Möglichkeit, die Krankheit und die Verzweiflung auf subtile Weise zu zeigen.“ Tatsächlich inszeniert Wettbewerbsnewcomer Sachs „Frankie“ sehr stimmungsvoll und über weite Strecken mit der Leichtfüßigkeit einer Woody-Allen-Liebeskomödie und lässt seinen Film noch ein ganzes Stück weitertragen von seinem wunderbaren, einfühlsamen Ensemble – von Brendan Gleeson bis Marisa Tomei.

Sozialer Realismus

Von dieser Atmosphäre in Portugal schwenkte der Wettbewerb zum sozialen Realismus von Jean-Pierre und Luc Dardenne, die bereits zwei Goldene Palmen unter anderem für „Das Kind“ gewonnen haben. Mit „Le jeune Ahmed“ greifen die belgischen Brüder ein so akutes wie politisch aufgeladenes Thema auf: Sie zeigen einen jungen muslimischen Teenager, der sich auf extreme Weise dem Islam zuwendet und zu Jugendarrest verurteilt wird, nach dem Versuch seine Lehrerin zu erstechen.

Trotz des schwierigen Sujets bieten die Dardennes keine Angriffsmöglichkeit für falsche Instrumentalisierungen. Sie wollen ein differenzierteres Bild zeichnen und zeigen vor allem anhand seiner Beziehung zu Frauen und Mädchen, wie sich der Junge durch seinen religiösen Sinneswandel und die Manipulation des Imam verändert. Im Grunde, das wird klar, ist er noch ein Kind, das sich in seine Idee von strengem Glauben verrennt.

Die Brüder Dardenne aus Belgien in Cannes mit ihren jungen Hauptdarstellern
Die Brüder Dardenne aus Belgien in Cannes mit ihren jungen Hauptdarstellern © APA/AFP/CHRISTOPHE SIMON

Warum sich Ahmed aber plötzlich so intensiv vereinnahmen lässt? Dazu, und das ist eine der Schwächen des Films, gibt es bestenfalls Andeutungen. Die Familie ist nicht streng gläubig; seine Mutter nicht einmal Muslima. Ahmeds extreme Verhaltensänderung scheint daher wenig nachvollziehbar.

Auf einem Festival, wo man drei, vier, manchmal fünf Filme am Tag schaut, kommt es selten vor, dass einem ein Film zu kurz vorkommt. „Le jeune Ahmed“ ist aber so ein Fall: Ohne die emotionale Kraft von Werken wie „Das Kind“ zu entwickeln, greift der Film in seiner Auseinandersetzung inhaltlich zu kurz und hinterlässt einen zu skizzenhaften Eindruck.