Als Fünfjähriger besteigt der indische Bub Saroo einen Zug, der ihn fortbringt: Weg von seinem Zuhause, seiner geliebten Mutter und seinen Geschwistern. Erst 25 Jahre später sollte er sie wiederfinden. Die ergreifende Geschichte, die das Drama "Lion" erzählt, beruht auf wahren Begebenheiten. Nicht nur das ist ein Grund, warum der am Freitag im Kino startende Film als heißer Oscar-Anwärter gilt.
Denn die Zutaten stimmen: Einerseits weiß das emotionale Grundgerüst dieser gut zweistündigen Reise zu fesseln, andererseits hat der Cast mit Dev Patel, Nicole Kidman, David Wenham oder Rooney Mara hochkarätige Namen im Angebot. Für Regisseur Garth Davis, der bis dato mit der gefeierten Serie "Top of the Lake" und einigen Werbefilmen in Erscheinung getreten ist, also gute Voraussetzungen für seinen Spielfilmeinstand. Diesen setzt er höchst konventionell und ohne jegliche Experimente um, was einerseits der Erzählung zugutekommt, andererseits auf Dauer Spannung vermissen lässt.
Anfangs begegnet man dem kleinen Saroo und seinem älteren Bruder Guddu, die in ärmlichen Verhältnissen aufwachsen. Um ihre alleinerziehende Mutter zu unterstützen, machen sie sich immer wieder auf die Suche nach Arbeit. So auch in jener schicksalsträchtigen Nacht im Jahr 1986: Unterwegs schläft der kleine Saroo völlig erschöpft auf einer Bank ein, weshalb Guddu alleine loszieht - und nicht zurückkehrt. Der verzweifelte Saroo besteigt auf der Suche nach seinem Bruder einen Zug, der losfährt und aus dem er sich erst nach stundenlanger Fahrt im 1.600 Kilometer entfernten Kalkutta befreien kann.
Gestrandet in der Fremde
Hier wird eine fremde Sprache gesprochen, ist der kleine Bub vom Verkehrslärm, den Menschenmengen und der Größe der Gebäude eingeschüchtert. An den Namen seines Heimatortes erinnert er sich falsch, und auf Hilfe muss er im abweisenden Getümmel ohnehin lange warten. Es sind eindringliche Bilder, die Davis für diese Verlorenheit findet. Überbordender Pathos ist nicht seine Sache, stattdessen herrscht ein nüchterner Zugang zu diesem Schicksal vor. Ohnehin ist es die Mimik des kleinen Sunny Pawar, der Saroo als Kind darstellt und den Film in dieser Phase trägt.
Der Bub kommt in ein Waisenhaus, die Suche nach seiner Mutter läuft erfolglos. So wird er von einem Ehepaar aus Tasmanien adoptiert, beginnt ein neues Leben und scheint das alte immer mehr zu verblassen. Bis bei ihm als junger Mann durch eine indische Spezialität Erinnerungen wachgerüttelt werden, die einiges auslösen. Eine immer verbissener werdende Suche ist die Folge, an deren Ende aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz ein Happy End steht. Nach Monaten und Jahren der langen Nächte vor Google Earth, der Berechnungen und Mutmaßungen über seine Reise als kleiner Bub, kann er seine leibliche Mutter und seine Schwester wieder in die Arme schließen. Sein Bruder Guddu ist in jener Nacht von einem Zug erfasst worden und gestorben.
Eine Oscar-Nominierung
Das Ensemble agiert in dieser zweiten Hälfte des Films, in der Davis immer wieder Szenen übereinanderlegt und das Gestern mit dem Heute verschwimmen lässt, solide. Allen voran Patel gibt der verzweifelten Suche seiner Figur ein glaubwürdiges Gesicht, während Kidman für ihre Darstellung der Adoptivmutter Saroos nur wenige Auftritte braucht, um sich in den Mittelpunkt zu spielen. Beide wurden dafür mit einer Oscar-Nominierung bedacht, ebenso wie Drehbuchautor Luke Davies, der das Buch von Saroo Brierley für die Leinwand adaptierte.
Doch so gut "Lion" auf emotionaler Ebene für viele funktionieren dürfte, so sehr vermisst man letztlich das gewisse Etwas, das die Verfilmung dieser berührenden Geschichte auf eine andere Ebene heben könnte. Die beeindruckenden Landschaftsaufnahmen dienen da ebenso wie die pathosschwangere Musik von Dustin O'Halloran und Hauschka lediglich als Vehikel und Stützen für einen Ausdruck, der in anderer Form wohl stärker funktioniert hätte. Dennoch: Ihre Wirkung wird diese Odyssee wohl nicht verfehlen.