Nathalie (Isabelle Huppert) hat ihr Leben überschaubar eingerichtet. Sie ist Philosophielehrerin an einer höheren Schule, hat einen Vertrag für ein Lehrbuch. Pflegt noch Kontakt zu ihrem ehemaligen Lieblingsschüler. Ihr etwas rundlich schlanker Ehemann Heinz (André Macon) ist ein Kollege, ebenfalls im Fach Philosophie. Die Tochter und der Sohn sind aus dem Gröbsten heraus und schon ausgeflogen. Ab und zu nervt die Mutter, ein ehemaliges Model, mit ihren Anrufen und Selbstmorddrohungen.
Solche Setzungen sind eine Spezialität der französischen Regisseurin Mia Hansen-Løve, die für „L'avenir“, so der Originaltitel, heuer bei der Berlinale mit dem Silbernen Bären für die beste Regie ausgezeichnet wurde. Der Erzählstil der 35-jährigen Pariserin steuert immer das Drama an, um es nicht eskalieren zu lassen, sondern zu unterspielen.
Alles im Umbruch
Nathalies überschaubare Welt gerät ins Wanken. Ihre Tochter trifft sich in einem Park mit ihrem Vater und eröffnet ihm, dass sie wisse, er habe ein Verhältnis mit einer anderen Frau. Das akzeptiere sie nicht, Vater müsse sich entscheiden: zwischen der Neuen oder Nathalie. Heinz geht und nimmt seine Bücher mit. Die Lücken im Regal zu füllen, gilt Nathalies Anstrengung. Die Mutter stirbt nach einem Sturz, der Verlag, der noch eine Neuauflage ihres Lehrbuchs vorbereitete, setzt sie vor die Tür.
Nathalie ist mit dramatischen Veränderungen in ihrem Leben konfrontiert, doch ihr Grundgestus strahlt etwas Ruhiges, Fatalistisches aus. Und doch zeigen ihr Gesicht und ihre Körperhaltung, dass es sich in ihrem Inneren abspielt. Und wie. Unglaublich, wie Huppert ihre Figur modelliert. Mit jeder Faser zeigt sie, dass sie das Wort Resignation nicht buchstabieren kann. Bei ihren Abschieden, ob vom Sommerhaus ihres Ex-Mannes in der Bretagne oder der weiteren Versorgung des Katers ihrer Mutter, überwiegen intellektuelle Überlegungen, emotionale Regungen kommen unter ferner liefen.
Nachdem in ihrem Umfeld so viel zusammengebrochen ist, empfindet Nathalie ein Gefühl der Freiheit. Und sie verbittet sich die Annäherungen eines jüngeren Mannes im Kino. Sie sucht keinen Mann. Und als sie ihren Lieblingsschüler in einer Kommune in den Alpen nahe Grenoble besucht, verweigert sie sich bei der Diskussion darüber, ob in einer philosophischen Online-Publikation Autorennamen genannt werden oder nur das Kollektiv gilt. Dafür hat sie einen genauen Blick darauf, dass bei den selbst ernannten Alternativlern die Frauen den Abwasch besorgen.
Reinhold Reiterer