Die Welt ist kalt geworden, aber sie funktioniert - für die Finanzkonzerne: "Stille Reserven" von Valentin Hitz ist eine vielleicht gar nicht so ferne Dystopie über den Menschen als Speichergrundlage, den Wert des Lebens und das Recht auf Tod. Bei der Viennale feiert der düstere Spielfilm mit Clemens Schick heute Österreich-Premiere, bevor er am 28. Oktober regulär in den Kinos anläuft.
Regisseur Valentin Hitz siedelt seine österreichisch-deutsch-schweizerische Koproduktion in einem Wien der unbestimmten Zukunft an. Die Bürger sind in der Mehrheit verschuldet - was die Betroffenen auch über den Tod hinaus in den Fängen der Finanzwelt hält. So werden die einstigen Schuldner im vegetativen Zustand als Ersatzteillager, Datenspeicher oder Leihmutter missbraucht, bis ihre finanzielle Schuld abgeglichen ist. Der Versicherungskonzern EAR bietet dagegen eine "Todesversicherung" an, die einer Oberschicht das Recht auf Tod sichert und von skrupellosen Versicherungsagenten vertrieben wird.
Einer davon ist Vincent Baumann (Clemens Schick), der für seinen Karriereaufstieg den Abschluss mit dem desillusionierten Milliardär Wladimir Sokulow (Daniel Olbrychski) benötigt, der sich jedoch als Gesellschaftszyniker erweist. Auch dessen Tochter Lisa Sokulova (Lena Lauzemis) stemmt sich als Aktivistin gegen das radikale Zweiklassensystem, das eine verarmte Parallelgesellschaft produziert. Sie will mit Gleichgesinnten eines der großen Lebenserhaltungslager abschalten. Vincent wird deshalb auf Lisa angesetzt und muss zugleich am eigenen Leib erfahren, wie das Leben in der grauen Wirklichkeit aussieht. So entdeckt das nüchterne Rädchen im System etwas bis dahin Unbekanntes: Gefühle.
Der deutsche Kinostar Clemens Schick ("Das finstere Tal") spielt sich hier mit dem Wandel vom erratisch-emotionslosen Keiler zum sukzessive menschlicher werdenden Zweifler ins Zentrum des Geschehens. Dem in Wien sozialisierten Filmemacher Hitz gelingt in seinem ersten Spielfilm seit "Kaltfront" 2003 die glaubwürdige Geschichte einer düsteren Zukunft, die ebenso cool wie kalt daherkommt, was nicht zuletzt eine der emotionslosesten Sexszenen der Filmgeschichte zwischen Vincent und seiner Chefin untermauert. Jeder Mensch ist gechipt, von Computern durchanalysiert und zum funktionierenden Fragment eines organisierten Ablaufs degradiert - wenn er nicht gänzlich aus dem System fällt.
Ausweichen in den Untergrund
Dieser seelenlosen, rationalisierten Gesellschaft, die ausschließlich in der Nacht gezeigt wird, steht in "Stille Reserven" eine Gegenwelt des Untergrunds gegenüber, die an die Clubatmosphäre des Chicagos der 1920er erinnert, der technoiden Kälte jedoch nur bedingt etwas entgegensetzen kann. Alles, was nicht dem Funktionieren der Finanzmaschine dient, sind bestenfalls Erinnerungsrudimente als Mahnmale einer vergangenen Zeit wie der verlassene Vergnügungspark, in dem sich Lisa in ihre Kindheit zurückträumt. Immerhin rauchen als sympathischer Anachronismus im Untergrund alle Beteiligten.
So stellt "Stille Reserven" den nüchternen, unpathetischen Kommentar zur Schuldenkrise und der Zukunftsperspektive einer zunehmend technologisierten Gesellschaft dar. Das schlechte Gewissen beim ersten Griff nach dem Smartphone nach der Vorführung dürfte bei der Mehrheit der Kinogänger jedenfalls nicht ausbleiben.