Nur selten vermag es ein Film, uns bis ins Mark zu erschüttern und auch lange nach dem Abspann nicht loszulassen. "Manchester by the Sea" ist so ein Film. Am Donnerstag (20. Oktober) eröffnet die dritte Regiearbeit des US-amerikanischen Dramatikers, Drehbuchautors und Regisseurs Kenneth Lonergan die 54. Viennale, ehe sie am 13. Jänner regulär ins Kino kommt. Ein so aufwühlender wie würdiger Festivalauftakt.
Lee Chandler (Casey Affleck) ist Hausmeister und Handwerker in einem Appartementkomplex in Quincy, unweit von Boston. Tag für Tag beseitigt er Müll, verrichtet kleinere Klempnerarbeiten, malt Wände an und achtet darauf, jeglichen Smalltalk mit den Mietern zu vermeiden. Die Abende verbringt der wortkarge Einsiedler vor dem Fernseher in seiner kleinen Kellerwohnung oder alleine in einer Bar, wo er bereitwillig Schlägereien mit jedem anfängt, der Blickkontakt aufnimmt. Was Lee so wütend, aggressiv und scheinbar gefühlskalt hat werden lassen, erfahren wir vorerst nicht.
Die Nachricht vom Tod seines lange herzkranken Bruders Joe (Kyle Chandler) zwingt Lee temporär zurück in seinen Heimatort, die Küstenstadt Manchester-by-the-Sea, wo er sich um die Beerdigung und - sehr zu seinem Schock - seinen 16-jährigen Neffen Patrick (Lucas Hedges) kümmern soll. Weil dessen alkoholkranke Mutter Elise (Gretchen Mol) vor Jahren die Familie verlassen hat, hat Joe seinen Bruder im Testament zum legalen Vormund ernannt. Während sich das ungleiche Onkel-Neffen-Paar in der neuen Situation zurechtzufinden versucht, wird Lee mit jener Vergangenheit konfrontiert, die ihn einst aus dem Ort flüchten ließ.
Mit Lees Aufbruch ins verschneite, pittoreske Manchester-by-the-Sea, wo der Film auch gedreht wurde (Kamera: Jody Lee Lipes), entfaltet sich nach und nach jene Familientragödie, die Lee mit tiefer Trauer und quälenden Schuldgefühlen zurückgelassen haben. Vorsichtig mit der Gegenwart verwobene Rückblenden geben flüchtige Einblicke in ein Leben als warmherziger, wenn auch dem Alkohol gar zugeneigter Lebemann, Bruder, Onkel, Kumpel und Familienvater. Ein Moment zwischen Lee und Ex-Frau Randi (Michelle Williams), einem Paar verbunden durch eine nicht in Worte zu fassende Tragödie und getrennt durch verschiedene Arten der Trauerbewältigung, gehört zu den intensivsten Szenen, die das Kino in den vergangenen Jahren hervorgebracht hat. Wenn Randi gerade so die Frage "We can't have lunch?" herausbringt, bricht ihr Herz erneut und das des Zusehers gleich mit.
Kenneth Lonergans außergewöhnliches Drehbuch, das er nach einer Idee von John Krasinski und Matt Damon ursprünglich für Damon als Regisseur schrieb, strotz vor wahrhaftigen Dialogen, Liebe zum Detail und kleinen, zarten Momenten, die ein Leben ausmachen. Lonergan greift Themen aus seinen früheren beiden, kraftvollen Arbeiten - dem Debüt "You can count on me" (2000) mit Mark Ruffalo und Laura Linney und dem von Produzentenstreit geprägten "Margaret" (2011) mit Anna Paquin - auf: Es geht um Heimkommen wider Willen, komplexe Familienverhältnisse, den sich tief einnistenden Schmerz von Schuld und die damit verbundene Sprachlosigkeit, den Verlust des eigenen Seins.
Der Film gleitet dabei - abgesehen von der etwas überstrapazierten Barockmusik - nie ins Melodramatische ab und behält trotz seiner Schwere und Ernsthaftigkeit auch Humor. Vor allem die Dialoge zwischen dem ruppigen Lee und dem trotz Schicksalsschlägen lebhaften Patrick muten echt und schlicht menschlich an. Da gibt es viel betretenes Schweigen, schroffes Geplänkel und berührende Annäherung - etwa, wenn Lee als Ablenkungsmanöver für die Mutter eines Mädchens herhält, mit dem Patrick es endlich in Ruhe unter die Gürtellinie schaffen will.
Oscar-Chancen
Dass "Manchester by the Sea" am Ende keine einfache (Auf)-Lösung bietet, ist einer der Qualitäten dieses so eindringlichen Films, der bereits jetzt - zu Recht - ins Spiel um die Oscar-Verleihung 2017 gebracht wird. Chancen auf eine Nominierung werden neben Lonergan selbst vor allem Casey Affleck ausgerechnet, der mit seinem nuancierten, schmerzerfüllten Spiel zweifellos die beste Performance seiner Karriere abliefert. Wenn man sich noch eine Woche nach dem Film fragt, wie es Lee wohl jetzt gerade geht - dann haben er und Lonergan alles richtig gemacht.