Wie viel Überwindung hat es Sie gekostet, diesen Roman über Ihre Mutter zu schreiben?

JANA REVEDIN: Ich trug dieses Buch schon lange als eine Art Auftragsbuch meiner Mutter in meiner Seele. Aber ja, ich hatte zuerst Angst, in die dunkle männerdominierte Zeit der 50er-Jahre zu blicken und auf das, was Renina widerfahren ist.

Wie hat Ihnen Ihre Mutter die erschreckenden sexuellen Übergriffe, die sie durch ihren ersten Ehemann erlitten hat, eröffnet?

Über diese erste Ehe hat sie ihr Leben lang nicht gesprochen. Auch mein Vater, der junge Assistenzarzt, der ihr am langen und ereignisreichen Tag, an dem das Buch spielt, das Leben rettete, hat ihn nie erwähnt. Wir Kinder wussten nichts vom Leben meiner Mutter vor dem Erscheinen der "Lady", ihrer Zeitschrift, die zu meinen Kindertagen bekannt war wie ein bunter Hund, und ihrer Familiengründung mit meinem Vater. Erst in ihren letzten Sommern, als sie mit mir in Kärnten ihr Leben Revue passieren ließ, holte sie aus alten Fotoalben die Bilder eines sehr gut aussehenden jungen Mannes hervor und erzählte von den Übergriffen und von der Trennung von diesem Mann. Ich hatte gerade meinen allerersten Roman veröffentlicht, den sie sehr liebte, und sie sagte: "Irgendwann schreibst du auch diese Geschichte auf."

Wie konnten Sie als Tochter die Geschichte Ihrer Mutter auf schmalem Grat zwischen Offenheit und Intimität austarieren?

Meine Mutter war ihr Leben lang selbstbestimmt. Zu mir, ihrem jüngsten Kind, hatte sie ein besonderes Verhältnis, wir pflegten füreinander größten Respekt und größtes Vertrauen. So konnte sie mir ihre herben Verluste genauso wie ihre bestandenen Aufgaben anvertrauen – als Nachricht für andere junge Frauen, für alle Frauen.

Auch als Vorbild wohl. Im größten Gefahrenmoment ihres jungen Lebens schreibt Ihre Mutter, damals gerade 24 Jahre alt, den Leitartikel ihrer kurz danach erstmals erscheinenden "Lady": "Lieben Sie ja sagen? Ich auch nicht" ist eine Analogie der Selbstbehauptung in düsterster Stunde?

Renina gibt nicht auf. Sie trifft die Entscheidung, die Abhängigkeit von ihrem Mann unverzüglich abzuschütteln. Das bedeutet in den frühen 50er-Jahren für eine Frau eine soziale Niederlage, sie wird zwar geschieden werden, aber auch geächtet. Ihre Antwort ist ihre "Lady", die auch andere Frauen ermutigen soll, eigene Wege zu gehen.

Jana Revedin: Der Frühling ist in den Bäumen. Aufbau, 23,50 Euro
Jana Revedin: Der Frühling ist in den Bäumen. Aufbau, 23,50 Euro © KK

Im Roman ergreift sie in einer detailreich beschriebenen Dressurpassage bildlich die Zügel.

Renina erinnert sich im Moment größter Bedrängnis an die drei Grundregeln der Reitkunst: Takt, Aufrichtung, Schwung. Aus diesen von Kind an erlernten Ansprüchen schöpft sie neue Kraft. Oft ist es ein gesunder Automatismus, der uns vor der Macht des Lebens schützt.

Als Herausgeberin und Chefredakteurin der "Lady" begibt sie sich journalistisch von Anfang an auf internationales Parkett und interviewt in Paris Christian Dior, mit dem jungen Yves Saint Laurent im Schlepptau.

Ihre Botschaft an die Frauen war, nach ihren Träumen zu greifen. Sich nur, ich zitiere Hilde Domin, dem Höchsten zu beugen. Meine Mutter lebte in Konstanz selbst in engsten Umständen, sie wollte die Welt in diese Zeitung bringen, und die "Lady" machte tatsächlich ihre Epoche. Kaum jemand konnte damals nach Paris oder Mailand reisen, wo die Mode-, Design- und Theatertrends geschrieben wurden, erst recht nicht nach New York, wohin die Kunst-, Philosophen- und Literaturszene ausgewandert war. Mit der "Lady" reiste jedermann, jedefrau mit. Die von Marlene Dietrich initiierten "Weekends mit Lady" waren ein Wegweiser für diese Öffnung zu einem jungen, gar nicht verwöhnten, sondern schlicht kulturbegeisterten Publikum. Man konnte eine damals kaum bekannte Maria Callas in einer verlassenen Grotte auf Capri den Mond besingen hören, mit dem jungen Nouvelle-Cousine-Rebellen Paul Bocuse auf Lyoner Bierbänken speisen, mit Diors Nachwuchstalent Yves Saint-Laurent die verborgenen Basare von Marrakesch erkunden, mit Peggy Guggenheim barfuß den durchwindeten venezianischen Lido entlang flanieren ...

Renina denkt dabei nicht nur an Mode und Chic, sondern auch an Forschung und Technik als progressive Frauenthemen. Und natürlich an das Thema Frauen und Gewalt. Insofern ist sie militante Feministin, eine frühe Alice Schwarzer?

Ihre Geschichte ist ein zeitloses Mahnmal gegen Gewalt gegen Frauen, die in allen Gesellschaftsschichten vorkommt. Gewalt ist strafbar und sie kommt immer ans Licht.

Die "Lady" war lange Zeit vor der Madame oder der Emma Deutschlands erstes Frauenmagazin. Wie war diese Idee im männerdominierten Nachkriegsmuff entstanden?

Meine Mutter war ausgebildete Philosophin und Germanistin und die letzte Assistentin von Martin Heidegger. In jenem akademischen Kontext wurde sie als junge Frau nicht respektiert, ja nicht einmal beachtet. Mein Großvater, ehemaliger Züchter der Pferde der Preußischen Kavallerie, hatte nach dem Krieg aus dem Nichts eine Veterinärzeitschrift gegründet und gab ihr die Chance, sich für gleichgesinnte Frauen einzusetzen. Aus diesem Wagnis entstand die "Lady".

Eine Frauenzeitschrift zu gründen war damals revolutionär, zumal für eine Frau aus zwar verarmtem, doch aristokratischem Haus.

Ja, die von Freysolds mussten sich vollkommen neu erfinden, nachdem Hitler sie gleich nach seiner Machtübernahme enteignet hatte. Doch Renina jammert nicht, im Gegenteil, alle in der Familie sind stolz, einem Despoten getrotzt zu haben.

Letztlich scheiterte die Zeitschrift an internen Querelen, Reninas Bruder reißt nach dem Tod des Vaters unverhofft den Verlag an sich. Hat Ihnen Ihre Mutter Exemplare der "Lady" hinterlassen?

Tatsächlich hat sie ihr ganzes Archiv zerstört, so sprachlos war sie über diese erneute Enteignung. Nur die allerletzte "Lady" vom September 1971 hat sie für mich aufbewahrt. Als hätte sie mir mit dieser Ausgabe über New York, Mailand und Paris, die damaligen Weltzentren des Designs, den Weg in die Architektur ebnen wollen.

Die Architektur war von Kind an ihre Passion?

Nein, gar nicht, ich liebte es, mit meinem Vater in den Garten zu gehen, also würde ich Gärtnerin werden. Meine Eltern sahen mich als die Nachfolgerin meiner Mutter im Verlag, weil ich ständig kleine Gedichte aufsagte, auf Blätter schrieb oder vor mich hinsang. Die Liebe zu den Gärten und zum Schreiben ist geblieben, die Architektur lebt in meinen StudentInnen – und in meiner Tochter Caterina weiter.