Bei den Wiener Festwochen 2014 hatte Romeo Castellucci das Publikum in Christoph Willibald Glucks „Orfeo ed Euridice“ per Kamera und Videoinstallation an das Krankenbett einer realen „Euridice“ geführt – an jenes der 25-jährigen Karin Anna G. im Lainzer Geriatriezentrum, gefangen im Schattenreich eines Wachkomas.

Beim letzten Gluck-„Orfeo“ in Salzburg im Sommer 2014 hatte Regisseur Ivan Alexandre einen Tänzer als Tod hinzugefügt – nicht als Furcht einflößende Figur, sondern als zärtlichen Liebhaber Euridices.

Christoph Loy wählte nun für die Salzburger Pfingstfestspiele, die sich heuer ganz dem Orpheus-Mythos und damit den „Passions de l’âme“, also den Leidenschaften der Seele widmen, ebenfalls Beifügungen, aber strukturelle. Er nahm gemeinsam mit dem Dirigenten Gianluca Capuano die selten gespielte Parma-Fassung von Glucks Oper her, ergänzte den Akt mit sieben Szenen um Elemente aus der Wiener Urfassung und der Pariser Fassung, fügte den Furientanz ein und begann gleich mit der Totenklage statt der heiteren Ouvertüre, dafür blieb freilich das Happy End der 1762 in Wien uraufgeführten Oper aus.

Der deutsche Regisseur zeigt, wie auch die zwei anderen erwähnten Inszenierungen, nicht bloß eine tragische Liebesgeschichte aus der antiken Mythologie, sondern stellt sich und uns existenzielle Fragen. Im Vorfeld betonte der 60-Jährige, dieses Drama sei für ihn „eigentlich auch das Drama jedes einzelnen: Wir müssen jeden Tag entscheiden, was wir mit unserem Leben machen“.

Seine konventionelle Inszenierung auf Johannes Leiackers trockener Bühne, eine Art Blaupause vom holzgetäfelten Karl-Böhm-Saal gleich nebenan mit Portal und bis zum Orchester abfallender Breittreppe, lässt diese gedankliche Prämisse dann aber doch nicht sehr deutlich werden. Die handlungsarme Oper hat so ihre Lücken und Tücken, und hätte nicht der Choreograph Loy dem Regisseur Loy geholfen, selbst die nur knapp über anderthalb Stunden wären sehr lang. Was die zwölf Tänzerinnen und Tänzer allerdings an fiebrigem Tohuwabohu und ruhigen Tableaus liefern, ist beeindruckend und bewegend, vor allem in den Trauerszenen eingangs und ausgangs, Danses macabres von allegorischer Tiefe.

Bewegend aber natürlich die Geschichte von Orpheus und Eurydike selbst und in Glucks „Azione teatrale per musica“ speziell die Figur des Orfeo, auf die das Werk hauptsächlich fokussiert. Eine Paradepartie mehr für die Festspielintendantin. „Das unerträglichste Unglück für die Seele ist es, des einzigen geliebten Wesens beraubt zu sein“, singt Cecilia Bartoli unter anderem. Und sie tut es in der Hosenrolle (Kostüme: Ursula Renzenbrink) gesanglich wie schauspielerisch unnachahmlich intensiv.

Die römische Mezzosopranistin, in einer Woche 57 Jahre jung, brilliert mit Intimität und Farbenreichtum. Das Süße des Gewesenen und das Bittere des Verlorenen mischen sich in ihrem Schmerzensmann Orfeo zum Psychogramm eines Verlorenen. Als dieser sich auf dem Weg aus dem Hades verbotenerweise doch nach Euridice umdreht, stehen Herz und Welt still...

Die junge französische Sopranistin Melissa Petit singt den kleinen Part der Euridice feinnervig, die Neuseeländerin Madison Nonoa gibt stilsicher den Amor. Große Ereignisse kommen aus dem Graben: Bartolis Hausorchester in Monaco, Les Musiciens du Prince, und Gianluca Capuano breiten Furor wie Leidenschaft klangdelikat und hoch differenziert aus, und der präsente Kammerchor Il Canto di Orfeo fügt sich ideal ein.

Der Schlussakkord war erfreulich und befremdlich zugleich: Cecilia Bartoli erhielt von Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer quasi in den finalen Jubel hinein auf der Bühne den Titel Österreichische Kammersängerin verliehen. Schöne Geste, nicht schöner Zeitpunkt.