Über zwanzig Stunden brauchte Peter Stein einst, den ganzen Faust auf die Bühne zu bringen. Kay Voges nimmt sich im Volkstheater kaum mehr als zwei, um einen zentralen Aspekt des Stücks durchzuexerzieren: Fausts Suche nach dem vollendeten Augenblick, einem Moment, der es wert wäre, seine Seele dafür zu geben. Für Voges und seinen Dramaturgen Michael Seier findet diese Suche in der Fotografie ihren alltäglichen Ausdruck.

Also wird fotografiert. Rund hundert Bilder schießt der allgegenwärtige Marcel Urlaub vom Bühnengeschehen und projiziert sie, kaum verzögert, auf wechselnde Leinwände: Momentaufnahmen des Schnelldurchlaufs durch der Tragödie ersten Teil, zur Diskussion gestellt und verworfen. Der Augenblick haftet nicht, wird verdrängt vom nächsten "farbigen Abglanz", an dem wir, sagt Faust, das Leben haben.

Voges beginnt, als wollte er nichts weglassen. Wir sehen die schwankenden Gestalten der "Zueignung" nahen, wir lachen über den Zynismus des Theaterdirektors, der zu seiner verächtlichen Charakterisierung des Publikums Urlaubs Momentaufnahmen von uns, der "staunend gaffenden Menge", auf die ganze Bühnenbreite projiziert. "Satt vom übertischten Mahle" sitzen wir da, "die Damen geben ihren Putz zum Besten und spielen ohne Gage mit", die Herren freuen sich schon aufs Kartenspiel oder "einer Dirne Busen". Die witzige Schmähung gewinnt dem echten Direktor, der Kai Voges auch ist, sein Publikum.

Dann schlägt die Stunde des Andreas Beck. Ruhig steht er auf der fast leeren Drehbühne Michael Sieberock-Serafimowitschs. Nur im dunklen Hintergrund zeichnet sich ein Wohnkubus ab, der alles ist im Lauf des Abends, vor allem aber Fotolabor. Beck spricht den klassischen Monolog des Faust, als wäre er ihm soeben in den Sinn gekommen, Ausdruck eines Lebensüberdrusses, der keine Übertreibung nötig hat, weil er echt ist. Man möchte mehr hören von ihm, vor allem den Schlussmonolog, den die Regie leider Uwe Schmieder anvertraut. Der war ein guter Theaterdirektor, als Faust fällt ihm nur platte Deklamation ein.

Die übrigen Stückfragmente fallen dem zehnköpfigen Team in wechselnder Besetzung zu. Gretchen tritt manchmal vierfach auf, auch Faust vermehrt sich durch maskentragende Schauspieler. Uwe Rohbeck ist – meistens – sein Teufel, kühl, zynisch und durchtrieben. Von seinen Hörnern sind nur noch Stummel übrig, letzte Spuren der wegoperierten metaphysischen Komponente des Dramas. Unter den Schauspielerinnen sticht Hasti Molovian heraus, die an Gretchens Liedern auch ihre hohe Gesangskunst demonstriert.

Stückkenntnis setzt Voges voraus. Hart sind die Schnitte, wer die Zusammenhänge nicht kennt, verliert sich wohl im Textgestöber. Wer nicht weiß, was Faust nach seiner Affäre mit Gretchen als Minister, Turbokapitalist und Menschenzüchter in vier Akten des zweiten Teils alles tat, um seinen Lebenssinn zu finden, wird das Ende des fünften nicht verstehen. Meint der Verweis auf "die Spur meiner Erdentage" nur den Verrat an Gretchen, bleibt kein Grund zu Stolz und Zukunftshoffnung. Nur im Hinblick auf diese Hoffnung aber genießt der sterbende Faust einen vorweggenommenen Augenblick des Glücks.  

"Wie machen wir 's, dass alles frisch und neu und mit Bedeutung auch gefällig sei?", fragte sich Goethes Theaterdirektor, muss sich jeder Regisseur wieder fragen. Kay Voges und sein Team haben einen neuen, sehenswerten Zugang zu einem Teil des Monumentalwerks gefunden, der manches Opfer rechtfertigt. Zur Vorbereitung – und überhaupt – empfiehlt sich die Lektüre des Gesamtwerks.