Wie sehr schränkt Sie die nunmehrige Isolation als Schriftsteller ein?
JOSEF WINKLER: Wir Schriftsteller beißen ständig ins Gras der Einsamkeit und sind dem Leben und dem Tod auf den Fersen. Lieber ein Ausgeschlossener als ein Eingeschlossener, habe ich oft gedacht, wenn es mich doch einmal bedrückt hat. Außerdem heißt es bei André Heller, daß die wahren Abenteuer im Kopf sind. Und: „Schreiben als eine Art stilles Feiern - die stillen Messen waren mir oft die liebsten“, heißt es bei Peter Handke.


Welche Lehren ziehen Sie aus dem Ausnahmezustand, auch als jemand, der auf dem Land aufgewachsen ist und das „Krisenmanagement“ im Dorf kennt?
Bei den Unwetterkatastrophen gab es eine Dorfgemeinschaft im Sinne von Zusammenhalt, ohne Gemeinheiten, denn aus dem Wort „Dorfgemeinschaft“ habe ich auch immer das Wort „gemein“ herausgelesen. Damals wie heute sind wir natürlich alle stark genug, um ertragen zu können, was den anderen zustößt!

Gab es auch Existenzängste?
Bei aller Sorge, die wir hatten, spürte ich auch Glücksgefühle als der aus dem Berg donnernde Bach die Dorfstraße auseinanderriss, die Schweine im Stall schwammen, der Großvater die Ferkel vor dem Ertrinken rettete, die Kühe knietief im Wasser standen, die dicke, unbewegliche Großmutter laut betend mit dem Rosenkranz rasselte. Die Bauersfamilie war noch auf dem Feld als es in Strömen zu regnen begann. Während der Vater nach der Ankunft auf dem Hof mit den plitschnassen Pferden zuallererst in den Stall lief, suchte die Mutter nervös die Kinder im Haus und atmete sichtbar auf, als sie mich und meine Schwester, kniend und laut betend auf der Küchenbank vorfand. Die Schwester mit den langen Haarzöpfen weinte bitterlich, ich spielte den Weinenden, mit Gänsehaut.

Der Schriftsteller bei der Eröffnung von "For Forest" im Klagenfurter Stadion
Der Schriftsteller bei der Eröffnung von "For Forest" im Klagenfurter Stadion © klz/weichselbraun

Was hat Sie dabei beglückt?
Am Tag nach der Katastrophe fing ich mit unserer Waschschüssel in den Tümpeln des auseinandergerissenen Dorfbaches Krebse und zeigte sie stolz der Mutter. Ich legte ihr zwei zappelnde und mit ihren Schwanzflossen auf den Suppenteller schlagende und nach Luft schnappende Bachforellen auf den Mittagstisch. Auf den überschwemmten Feldern sah ich einen schwimmenden Fuchs, der Traktor stand fast bis zum Lenkrad in Schlamm und Wasser, der Vater war friedlich wie zu Ostern und zu Weihnachten. Unmittelbar danach wurde die Dorfstraße das erste Mal asphaltiert. Der Geruch des warmen, dampfenden Teers hat mich bezaubert.

Unmittelbar nach dem Erscheinen Ihres ersten Buches haben Sie sich ein Monat lang in einem Kloster verkrochen. Wo und warum?
Ich hatte ein schlechtes Gewissen meinem Vater, dem Dorf gegenüber, denn ich habe schließlich, wie es bei den Dorfleuten hieß, „das Dorf kaputt geschrieben“. Am Tag des Erscheinens meines ersten Buches setzte ich mich in den Romulus. Als ich mit meiner 20 Kilo schweren elektrischen Kugelkopfschreibmaschine an der Stazione Termini in Rom ausstieg und auf der Piazza dei Cinquecento auf die duftende Blütenpracht der Bäume schaute, war ich der glücklichste Mensch. Sie sollen sich jetzt um meinen Roman kümmern, der sie krank machen wird, dachte ich. Ich habe es schon hinter mir und bin jetzt gesund! Einige Wochen später, zu Ostern, fuhr ich nach Assisi, wo ich mich einen Monat lang im Kloster einquartierte.

Was ist Ihnen von damals in Rom besonders in Erinnerung geblieben?
Nie mehr aus dem Kopf gehen werden mir die beiden sechzehnjährigen Nonnen - eineiige sizilianische Zwillinge mit Sommersprossen - , die in der Päpstegruft am Grabmal von Johannes XXIII. eine rote Rose auf den marmornen Sargdeckel legten, lange und wortlos mit geschlossenen Augen vor dem Grab knieten, ehe sie aufstanden und mit glasigen Augen, Hand in Hand, die Gruft der Päpste verließen.

Und wie war das Klosterleben?
Tag für Tag habe ich im Hof neugierig die zum Trocknen aufgehängte, sich im Wind bewegende Nonnenunterwäsche betrachtet und darauf gewartet, daß sie von einer heiligen Schwester abgenommen wird. Beim gemeinsamen Mittagessen im Speisesaal habe ich mit runzelnder Stirn die weinseligen Pilger beäugt, bis ein Mann streng rief: „Sie mögen Preußen wohl nicht?!“

Mit den ersten Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus hat der Bundeskanzler von einer Auferstehung nach Ostern gesprochen. Der Zeithorizont hat sich verschoben . . .
Ich kann zum Kurz‘schen Auferstehungs-Begriff nur sagen: Wenn er schon mit dem Ruder seiner schönen Ohren über das Wasser des Sees gehen konnte, es ihm nicht schwer gefallen ist, Leitungswasser in grünen Veltliner zu verwandeln, dann wird es ihm auch gelingen, dass der Zweck des Aspirin auch andere Mittel zur Heilung des Corona-Virus heiligt.

Gibt es eigentlich Anekdoten aus Ihrer Ministrantenzeit?
Nachdem uns der Pfarrer im Religionsunterricht erzählte, dass unsere Kirchenglocken nach Rom fliegen, setzte ich mich am Gründonnerstag unweit vom Pfarrhof zwischen ein paar Birken auf eine desolate Bank, starrte lange auf den Kirchturm und wartete darauf, dass die Glocken aus dem Kirchturm fliegen. Am Abend, beim Gottesdienst, durften wir Ministranten die Schuhe und die Socken ausziehen. Der Pfarrer hat unsere Füße gewaschen. Und als der Bischof meiner Kindheit, DDr. Joseph Köstner, einmal die Pfarrkirche in Kamering besuchte und wir Ministranten beim Gottesdienst das „Confiteor“ auf Latein auswendig aufsagten, rief der Bischof: „So etwas habe ich noch nie erlebt!“

Sind Sie eher ein Karfreitags-Typ oder ein Auferstehungs-Typ?
Am Karfreitag Nachmittag, um 15 Uhr, knie ich, wo immer ich bin, auf den Boden nieder und halte meine Ohren zu, denn ich höre das Einschlagen der Nägel in die Knochen Jesu. Ich bin ein Religionsmensch, durch und durch.

Stammgast beim Bachmann-Bewerb
Stammgast beim Bachmann-Bewerb © klz/elisabth peutz

Was sagen Sie zum neuen Kärntner Bischof?
Ich habe mich gefreut, dass nach 200 Jahren wieder ein Kärntner Slowene Bischof geworden ist. Seine Exzellenz, Bischof Josef Marketz, steht auch auf der Seite der Armen, Erniedrigten und Beleidigten, das beruhigt mich. Bereits im Sommer 2019, als wir beim Bachmann-Literaturwettbewerb zufällig gemeinsam mit ein paar Literaturkritikern vor dem Caritas-Restaurant „Magdas“ saßen, habe ich ihn schon als „Herr Bischof“ angeredet.

Haben Sie so einen guten Riecher?
Die Künstler sind wie die Wildschweine, sie erschnüffeln die Trüffel, während die Hunde wissen müssen, wo die Trüffel verborgen sind, um sie ausgraben zu können.

Warum sind Sie, den es in Ihren Schriften zwischen Glauben und Nichtglauben hin und her reißt, nicht schon aus der Kirche ausgetreten?
Wie soll ich aus der Kirche austreten, wenn ich persönlich nie in die Kirche eingetreten bin? Es war mir damals, als ich eine Woche alt war und mich meine Tante Tresl, die Gute Haut, wie sie genannt wurde, über das Taufbecken hielt, noch nicht möglich die Entscheidung meines Lebens zu treffen.

Wenn ich mich recht erinnere, wollten Sie einmal, dass der damalige Bischof Egon Kapellari Ihre Kinder tauft!?
Ich habe damals Monsignore Mairitsch (Anm.: der Stadthauptpfarrer in Klagenfurt-St. Egid, wo u. a. der Schriftsteller Julien Green beigesetzt wurde) angestachelt, den Bischof zu fragen, der aber geantwortet haben soll: „Offiziell möchte ich sie nicht taufen, und wenn ich es geheim mache, kommt es doch raus!“ Inzwischen sind sie 17 und 24 Jahre alt. Sie werden wohl Heiden bleiben.

Warum betreten Sie ungern Blumenläden?
Der modrige Geruch - die dicke Luft - in den Blumenläden erinnert mich oft an die Aufbahrung meiner Großeltern. Ich sehe, wenn ich einen Blumenladen betrete, oft ein Aufbahrungszimmer vor mir, die hochstehenden Zehen der im Sarg liegenden Großmutter und die schwarzen Schuhspitzen des ebenfalls eingesargten Großvaters. Der Großvater wurde mit Schuhen in der ehrwürdigen, von Tischlerhand angefertigten Bauernstube aufgebahrt, die Großmutter mit bloßen schwarzen Nylonstrümpfen in der Knechtstube.

Wie werden Sie heuer Ostern feiern!
Ich werde den ganzen Tag im Epos „Die Obstdiebin“ von Peter Handke lesen, der in seinen Aufzeichnungen „Gestern unterwegs“ geschrieben hat: „Spatzen in der Trauerweide, von der Weide das Wort ‚Trauer’ wegschilpend - und heute ist Ostersonntag, auf den ich mich seit Wochen gefreut habe.“