Wenn sich ein Sprung ins kalte Wasser „sehr angenehm anfühlt“, dann haben sich wohl zwei Richtige gefunden. Im Falle von Melissa Dermastia verlief die erste „Berührung“ mit dem Kärntner Madrigalchor bei einer Messe in der Klagenfurter Elisabethinenkirche so überzeugend, dass ihre Ernennung zur Leiterin des Chores die logische Folge war.
Dem ersten Sprung ins kalte Wasser folgt gleich der zweite. Anlässlich des 80. Jahrestages der Reichspogromnacht erarbeitet Dermastia mit dem Madrigalchor „Annelies“ von James Whitbourn, ein Werk nach Auszügen aus dem Tagebuch der Anne Frank. Die Aufführung war noch die Idee ihres Vorgängers Klaus Kuchling, aber die 28-jährige Magistra (Orgel und Kirchenmusik) geht voll auf in der Herausforderung das Klangmalerische des Werkes mit der Gefühlswelt eines pubertierendes Mädchens zusammenzuführen.

„Der Text ist so ernst und so berührend, dass es bei den Proben richtig auf die Stimmung drückt“, sagt Dermastia und Gabriela Dörflinger, die mitsingende Obfrau des Madrigalchores erzählt, dass man sich zwischendurch richtig zusammenreißen muss, um „nicht in Tränen auszubrechen“. Dörflinger hat sich im Vorfeld des Projekts noch mit Klaus Kuchling um die Finanzierung gekümmert (und das Land ins Boot geholt). Der Verein Memorial verzichtet heuer zugunsten von „Annelies“ auf sein Gedenkkonzert in der evangelischen Kirche am Lendhafen, die für fundierte zeitgeschichtliche Publikationen bekannte Nadja Danglmaier (Universität Klagenfurt) eröffnet das Konzert des Madrigalchors im Konzerthaus.

Melissa Dermastia hat also den Kopf frei für die differenzierte Klangwelt von Whitbourns „Annelies“. „Die Musik ist sehr tonal, sehr nahe am Text. Sie illustriert, ist manchmal auch etwas schräg, was aber mit den Gedanken von Anne Frank zu tun hat, dann wieder schwelgend und romantisch. Der Gänsehautfaktor entwickelt sich aus den schlichten Melodien“, beschreibt sie. Auch gebe es viele A-capella-Passagen, für die sich der rund 40-köpfige Chor „die Töne praktisch aus dem Nichts holen muss. Das kleine Ensemble (Klarinette, Violine, Violoncello, Klavier) unterstreicht die Reduktion eines Lebens im Versteck“. Gesungen wird – bis auf zwei Choräle auf Deutsch – in englischer Sprache, die Übersetzung gibt es auf Video.

Die aus dem Lesachtal stammende Sängerin Marie-Antoinette Stabentheiner kennt Dermastia vom Studium in Wien (neben Orgel auch Klavier und eine Chorleiterausbildung bei Erwin Ortner, Schönberg-Chor). „Ihr einfühlsamer und geradliniger Sopran ist ideal für die Darstellung der Anne Frank“, sagt sie. Was der Tänzerin Anna Possarnig zu „Annelies“ eingefallen ist, wird eine weitere Überraschung sein.
Keine Überraschung ist der Wunsch der neuen Leiterin für die Zukunft des Madrigalchors, der heuer sein 70-Jahr-Jubiläum feiert: „Mehr Männer!“ 2019 will Melissa Dermastia mit dem Chor quasi „back to the roots“ – zu Madrigalen, die schließlich auch im Namen zu finden sind, und zu A-capella-Gesang. „Das ist ein ganz anderes Singen als mit Instrumenten“, betont sie. Erarbeitet wird das nordisch-baltische Programm „Nordlicht“.