"Horse!", tönt es durch das große Zirkuszelt, und das klingt nicht von ungefähr wie: aus dem Weg! Denn wenn das große, silberfarbene Pferd erst einmal so richtig loslegt, sollte die Bahn in Richtung Bühne besser frei sein. Damit es aber überhaupt so weit kommt, muss man ihm erst Beine machen. Und das funktioniert erstaunlich gut, wenn zwei Zweibeiner gemeinsam den richtigen Lauf haben. Dass sich unweit davon ein überdimensionierter Jaguar anlehnungsbedürftig an eine menschliche Schulter schmiegt, ist keinem besonders einfühlsamen Tiertrainer geschuldet, sondern dass die hölzerne Marionette auf seiner Aufhängung adjustiert wird.
Ohne große Übertreibung kann man behaupten, dass beim Cirque du Soleil alle physikalischen Gesetzmäßigkeiten außer Kraft gesetzt sind. Hier schwingt sich jemand am Trapez durch die Lüfte, während dort jemand anderes sich dermaßen verbiegt, als hätte er gar keine Knochen. Hier im Backstagebereich des Zirkuszeltes der Produktion "Luzia" schaut es auf den ersten Blick wie in einem Fitnessstudio aus: Laufbänder, Turnmatten, Gewichthebestationen. Der zweite Blick offenbart jedoch schnell, dass man hier am Holzweg ist und das betrifft nicht nur den Jaguar: Es ist ein Fitnessstudio, in dem alle so fit sind, wie man nur sein kann. Fragen Sie Enya White, die jeden Abend und manchmal sogar zweimal pro Tag ohne Sicherheitsnetz hoch oben auf dem Trapez durch das Zelt schwingt. Elfengleich, als wäre es die leichteste Sache der Welt.
Wie hier überhaupt alles aus der Zuschauerperspektive so leicht, so beschwingt erscheint, als könnte man selbst von der Zuschauertribüne so mir nichts, dir nichts auf die Bühne springen und sich dem Treiben mühelos anschließen. Kann man nicht, wie einen der Sitznachbar mit einem dramatischen Luftanhaltemanöver ob dem Geschehen auf der Bühne aus der tagträumenden Begeisterung reißt. Nein, das hier ist ein Vollprofijob und Enya ist hier nicht die einzige Artistin, die sich bereits im Kindesalter einer Zirkusschule anschloss. "No Time for Fear" wird sie eiskalt wie James Bond sagen und schallend darüber lachen, dass der Cheftechniker, der 10.000 Liter Wasser verwaltet, von angenehmen 39 Grad Wassertemperatur spricht. Aber der Regenteppich, der sich über Enya wie von Zauberhand ergießt, lässt ihr ohnehin keine Zeit zum Nachdenken, es gilt: "Nicht ausrutschen und das Wasser schnell aus den Augen und dem Mund bekommen." Regen im Zirkuszelt ist selbst für den Cirque du Soleil eine absolute Novität. Nicht nur die Akrobaten, auch die Bühnenausstattung und die Kostüme mussten angepasst werden.
Aus 14 Metern Höhe ergießt sich der Wasserfall, dem zum Teil sogar Bilder eingeschrieben sind, in die Tiefe. Über rund 95.000 Löcher fließt das Wasser über den Bühnenboden ab und mittels eines komplexen Rohrsystems wieder in einen Tank außerhalb des Zirkuszeltes. Das Wasser, das ist der rote oder vielmehr blaue Faden, der sich durch das Programm zieht: "Luzia" ist eine Hommage an Mexiko, wie dreidimensionale Bilder einer fernen Welt zeichnet das Ensemble Orte und Geschichte des Landes nach. Die Musik ist mit einer eigenen Liveband absoluter Stimmungsmacher und Bindeglied zwischen den Nummern, die mit großer Leichtigkeit ineinander übergehen.
Da wird auf Laufbändern, die sich auch in gegensätzliche Richtungen bewegen können, in atemberaubendem Tempo durch Reifen gesprungen, über zehn Meter hoch werden die Artistinnen und Artisten auf der russischen Schaukel geschleudert. Betörend taucht der Halbgott des Regens, aus einem Cenote, einer Quelle, im Bühnenboden auf und wagt mit dem Jaguar ein Tänzchen. Man springt von einem alten Kino der 1920er-Jahre geradewegs auf ein Fußballfeld, trifft auf Wrestler, Clowns, die magische Reise der Monarchfalter und vorwitzige Kakteen. Rauschhaft durch und durch.
Schwindlig kann es einem auch bei den Zahlenspielen werden, die eine Produktion dieser Größenordnung mit sich bringt. Wenn der Tross, der noch bis Jänner in Madrid gastiert, im Frühling nach Wien kommt, rauscht er mit 80 Trucks an. Darunter ist auch jene zwei Tonnen schwere Scheibe, die auf der Bühne als eine Art Projektionsfläche fungiert, die sich um 360 Grad drehen kann.
Es gibt 1000 Kostüme, plus Ersatz, die täglich im Einsatz sind, Waschmaschinen, sechs Meter lange Schmetterlingsflügel und ein neun Kilogramm schweres Kleid, das mit 61 weißen, einzeln programmierten Blumen versehen ist – jede davon mit einem eigenen Motor. Und nicht zuletzt: 47 Künstler aus 26 Nationen und natürlich ein Pferd und ein Jaguar, was sonst?