Eines Tages verschwand ein Junge aus unserem Dorf. Gasparo Conti hatte ein blasses Kindergesicht, er war mollig, aber so graziös wie eine Schilfrispe, und wenn er barfuß mit einem gegabelten Ast in der Hand die kleinen abgelegenen Wege hinter dem Dorf entlang rannte, klang seine Stimme, sein Rufen so schrill wie die jedes anderen kampanischen Jungen ...“ Mit diesen Worten beginnt Margriet de Moor ihren sinnlichen Roman „Der Virtuose“ (1994), in dem ein gefeierter Kastrat in Neapel eine Opernsaison lang der Geliebte einer Adeligen wird.

Wie dieser Gasparo verschwanden im 17. und 18. Jahrhundert Tausende Knaben aus dem Hinterland Neapels. Bitterarme Familien gaben sie freiwillig in Schulen oder ließen sie sich von sogenannten Eunuchenhändlern für ein paar Münzen abkaufen, um ihnen eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Dort und in Waisenhäusern hatte man sich auf Musikausbildung konzentriert. Aus ihnen erwuchsen in der Hauptstadt berühmte Konservatorien, wie die „Pietà dei Turchini“, wo auch die bedeutendsten Musiker unterrichteten, so etwa der große Komponist und Gesangslehrer Nicola Porpora, durch dessen Hände die Besten der Besten gingen.

Aber die blutjungen Sänger gingen zunächst durch die Hände von Ärzten, Barbieren, Quacksalbern. Allein in Neapel, damals Europas Musikhauptstadt, kamen jährlich 4000 Knaben unter das „benedetto coltello“, das „gebenedeite Messerchen“, wie es so euphemistisch hieß. Bei der grausamen Entfernung der Hoden zur Unterdrückung der hormonellen Weiterentwicklung der Kinder und zur Bewahrung ihrer hohen Stimmen starb die Hälfte von ihnen noch während des Eingriffs – etwa an Ersticken, weil man sie teils kopfüber operierte – oder in der Folge wegen mangelnder Hygiene an Sepsis. Von der anderen Hälfte endeten viele als Bettler auf der Straße oder in Bordellen und nur die allerwenigsten im Olymp der Kunst. Auf Opernbühnen. In Adelshäusern. Oder im Vatikan, wo man die eigentlich streng verbotene Kastration duldete, weil Frauen das Singen in Kirchen untersagt war, man aber in Chören hohe Stimmen brauchte.

Im „Museo delle Arti Sanitarie e di Storia della Medicina“ in Neapel kann man erfahren, wie barbarisch die Verstümmelungen für Höhenflüge in der Gesangskunst waren. Gennaro Rispoli zeigt die medizinischen Werkzeuge, die eher wie Folterinstrumente wirken, und schildert, wie Acht- bis Zwölfjährige zunächst mit Opium, Belladonna oder dergleichen betäubt und danach mit Messern, Zangen, Scheren, Haken, Heftnadeln und Eisen zum Ausbrennen der Wunden traktiert wurden „wie Schweine“.

Instrumente zur Kastration im Museum zur Geschichte der Medizin in Neapel
Instrumente zur Kastration im Museum zur Geschichte der Medizin in Neapel © Festspiele/Zeuner


Der Museumsgründer und ehemalige Chirurg erzählt aber auch von Alessandro Moreschi, der bis zu seinem Tod 1922 in der Sixtinischen Kapelle in Rom diente, der als letzter Kastratensänger gilt und der einzige ist, von dem es Tonaufnahmen gibt. Und er erwähnt Igor Strawinskys befremdliche Antwort auf die Frage von Papst Pius XII., was denn die katholische Kirche für die Musik tun könne: „Geben Sie uns die Kastraten wieder!“

Alessandro Moreschi, der letzte Kastratensänger
Alessandro Moreschi, der letzte Kastratensänger © KK


In der Barockzeit gierten die Opernfanatiker nach Sensationen und Spektakeln. Und die Kastraten gaben sie ihnen: Engelsstimmen in fast überirdischen Höhen, virtuoseste Koloraturen, das bis zu einminütige Halten, An- und Abschwellen eines Tones, die Reinheit ihres Timbres und die Kraft ihres Ausdrucks – all das versetzte das Publikum in Ekstase.

Appiani, Caffarelli, Porporino, Salimbeni hießen die Könige im Reich der Musik. Oder Carlo Broschi alias Farinelli, der auf Wunsch seines österreichischen Vaters kastriert worden war, der mit seinem überirdischen Gesang sogar den gemütskranken spanischen Regenten Philipp V. heilte und dem eine Verehrerin zugejubelt haben soll: „Es gibt einen Gott, und es gibt einen Farinelli.“



Ja, die Kastraten wurden angehimmelt. Dennoch wurden sogar die berühmtesten unter ihnen abseits der Bühnen oft wegen ihres dicken und fleischigen Körperbaus und ihres „dritten Geschlechts“ als „Kapaune“ oder „Verschnittene“ verspottet. Andererseits waren viele der zwar zeugungsunfähigen, aber nicht impotenten Sänger als Liebhaber begehrt, konnten doch ihre Gespielinnen sicher sein, nicht schwanger von ihnen zu werden. Und selbst bei Casanova „nahm die entfesselte Phantasie freien Lauf, und ich war bis über die Ohren verliebt“, so schrieb er über den Moment, als er den funkensprühenden Kastraten Bellino sah und singen hörte.

Ehre den himmlischen Stimmen

Festivalleiterin Cecilia Bartoli
Festivalleiterin Cecilia Bartoli © Decca/Weber

Schon 2008 und 2009 führten die Salzburger Pfingstfestspiele nach Neapel, in die Geburtsstadt ihres damaligen Spiritus rector Riccardo Muti, und damit auch zu den Kastraten, denen die herausragenden Countertenöre Andreas Scholl und Philippe Jaroussky die Ehre erwiesen.

Heuer widmet Cecilia Bartoli ihr Festival ganz dem Andenken an die „Voci celesti“: „Wir konzentrieren uns dabei auf den letzten, glanzvollen Höhepunkt, den die Begeisterung für diese himmlischen Stimmen in der Geschichte der klassischen Musik erlebte“, sagt die künstlerische Leiterin, „zugleich möchten wir zeigen, welchen nachhaltigen Eindruck der Gesang der Kastraten auf die Musikliebhaber der damaligen Zeit machte“. Weiters wollen die 52-jährige Römerin und ihr Team aber auch auf die fürchterliche Tradition verweisen, „die über Jahrhunderte gepflegt und nur selten infrage gestellt wurde: Im Namen der Kunst verstümmelte man Tausende von Knaben.“

Im Zentrum der viertägigen Festspiele steht „Alcina“, Georg Friedrich Händels wunderbare Zauberoper, in einer Neuinszenierung von Damiano Michieletto. Neben Sandrine Piau, Philippe Jaroussky u. a. singt Mezzosopranistin Bartoli selbst die Hauptrolle, das von ihr gegründete Orchester Les Musiciens du Prince spielt unter der Leitung von Gianluca Capuano.

Salzburger Pfingstfestspiele vom 7. bis 10. Juni. Karten und
Information: Tel. (0662) 8045-500, www.salzburgerfestspiele.at