Mein Geburtsjahr ist 1950. Für meine populärmusikalische Sozialisation war der Rock’n’Roll zu früh gekommen. Als ich Fünfzehn war, hatten mir die Beatles und ihr genialer Produzent George Martin die symphonischen Möglichkeiten dieses Genres eröffnet. Und die Rolling Stones hatten uns gezeigt, wo der Hammer hängt, mit dem wir die Auslagenscheiben der bigotten Bürgerwelt eindreschen konnten.
Der klassische Rock’n’Roll und seine schmalzgelockten Protagonisten erschienen uns allenfalls als akustische Kulisse für Heizdeckenfahrten geeignet. Die Typen waren einfach zu nett. Ein Beispiel. Die Hauptikone Elvis Presley sagte in Interviews brav „No, Madame“ oder „Yes, Sir“. Zur selben Zeit ätzte John Lennon bei einem Beatles-Konzert im Prince of Wales Theatre: „Für unsere letzte Nummer ersuche ich um eure Hilfe. Ihr, in den billigeren Sitzen, applaudiert. Ihr anderen rasselt einfach mit euren Juwelen.“ Erkennen Sie den Unterschied?
Eine Sommerreise führte mich 1972 wieder einmal nach England. In London angekommen sah ich überall Plakate, die auf ein schier unglaubliches Meeting der wichtigsten Rock’n’Roll-Stars im Wembley Stadion verwiesen. Nur Elvis fehlte; der war damals, fünf Jahre vor seinem Tod, schon so von Cortison, Demerol und Hamburgern aufgefettet, dass ihm die Fährnisse eines Stadionkonzertes in Übersee abschreckten. Stattdessen tourte er einigermaßen rastlos durch die USA.
Aber alle anderen kamen. Chuck Berry, Little Richard, Bill Haley, Jerry Lee Lewis, Bo Diddley und viele anderer mehr. Im Stadion waren etwa 50.000 Leute versammelt, viele von ihnen tanzten. Die Teddyboys wirbelten ihre Girls über die Hüfte, es sah richtig putzig aus. Gemessen am veitstanzartigen Gezucke und der massenhaften Headbangerei bei damaligen Rockkonzerte wirkten die Rock’n’Roller recht possierlich. Die Tanztechnik war noch nahe am Lindi Hop. Und was da von der Bühne kam, konnte die stilistische Vaterschaft von Boogie Woogie, Jive und eventuell auch Ragtime nicht verleugnen.
Eine Ausnahme gab es für mich: Wie Chuck Berry sein „Roll Over Beethoven“ hinfetzte, das ging schon gehörig ans Ohrenschmalz. Und von Lewis wusste man, dass er eine 15-Jährige entführt und geheiratet hatte. Da war schon ein wenig Randale drinnen.
Der ganze Tag ist übrigens auf YouTube konserviert und abrufbar.
Der Begriff „Rock’n’Roll“ hat im Deutschen ein Eigenleben bekommen, das seine eigentümliche Ambivalenz übertüncht. Während sich „to roll“ halbwegs eindeutig mit sich wälzen übersetzen lässt, ist das bei „to rock“ nicht der Fall: Zum einen bedeutet es hin- und herwiegen. Aber auch erschüttern kann gemeint sein. Von solchen Feinheiten aber abgesehen wurde der recht weit gefasste Musikstil dieses Namens, meistens im 4/4-Takt gespielt und von muskulösen Möbiusschleifen der Bassgitarre und harten Schlagzeugbeats getrieben zum akustischen Synonym einer Generation, die ersten Aufruhr andeutete. Auch die großartigen Vintagemusikanten Old School Basterds klingen ja ch noeher nach Good-Time-Music als nach Straßenkampf.
Auch die erotische Komponente wurde immer unverhohlener. Presley trug den Spitznamen „Elvis, the Pelvis“ der auf seinen lasziven Hüftschwung Bezug nahm, mit dem er vor allem beim weiblichen Publikum durchaus sündhafte Gedanken auszulösen vermochte. Aber anders als bei der nachfolgenden Rabaukengeneration blieb noch alles bei Andeutungen. Wildheit an der Leine. Buddy Holly hatte seine Gitarre über den Brustwarzen angeschnallt, Keith Richards hängte sie dann zwei Stock tiefer: „Auf Schwanzhöhe“, wie der Dichter Michael Köhlmeier zufrieden feststellte.
Und während Rock’n’Roll-Groupies noch einigermaßen schamhaft in Garderoben und Hotelzimmern geparkt wurden, mutierten manche Marketenderinnen der Rock-Branche zu öffentlich gefeierten Stars. Pamela des Barres, Uschi Obermaier, Sable Starr oder die jüngst verblichene Anita Pallenberg sind nur einige Beispiele dafür.
Aber natürlich waren der klassische Rock’n’Roll und sein Tanzstil Wegbereiter des nachfolgenden Rumors. Man muss zubilligen, dass die erwähnten R’n’R-Ahnen aus einem heute unfassbar engstirnigen und teils auch frömmelnden Biotop kamen, in dem jede optische Abweichung und jeder laute Ton bereits als Landfriedensbruch geahndet wurde.
Und auch der Frohsinn der Klänge und Bewegungen waren einer Gesellschaft suspekt, die sich lieber mit Atombombentests oder Stellvertreterkriegen in Ostasien beschäftigte. Bekanntermaßen eignen sich fröhliche und erotisch aktive Menschen wenig für Kriege.
In diesem Sinne klangen im Rock’n’Roll bereits erste Ahnungen der späteren Friedensbewegung mit. Make love not war und so weiter. Elvis Presley hatte zwar einigermaßen widerstandslos ab 1958 seinen Militärdienst im deutschen Friedberg geleistet, ihn an eine reale Kriegsfront zu schicken hätten sie aber wohl nicht gewagt.
Auch an den damals noch so starren Rassenschranken wurde gerüttelt. So hatten etwa die Afroamerikaner Chuck Berry und Little Richard zahlreiche Fans unter den jungen Amerikanern weißer Hautfarbe. Rock’n’Roll war also durchaus ein gesellschaftlich befreiendes Element. Er war eine Art Versuchsstation eines erst kommenden Aufstandes.
PS. Zur Nachbearbeitung Ihres Styriarte-Abends empfehle ich einen Besuch auf YouTube. Mit Brian Setzers „Jump, Jive and Wail“ und mit Edgar Winters „Back In The USA“ können sie in wenigen Minuten fast den ganzen Rock’n’Roll-Kanon nachvollziehen.
Frido Hütter