So legte die künstlerische Leiterin des Prologs zu den Festspielen im Sommer ihre erste Hosenrolle an der Salzach vor - oder auch nicht. Schließlich nutzt Regisseur Loy die Geschichte um das junge Paar Ariodante und Ginevra, das kurz vor der Hochzeit durch eine Intrige des Widersachers Polinesso beinahe das Leben und seine Liebe verliert, zu einer Reflexion über Geschlechterrollen und -stereotype.
Textpassagen aus Virginia Woolfs Genderwandlungsklassiker "Orlando" sind mit dem Geschehen verwoben, und zugleich wandelt sich Bartoli über den Abend hinweg vom männlich gezeichneten Subjekt mit Bart über einen zwischen den Geschlechterbildern stehenden Charakter zur Frau mit maskulinem Gestus. Am Ende lieben sich zwei Frauen. Loy treibt hier die barocken Gendergrenzgänge auf die Spitze - was nicht nur auf Höhe der heutigen Diskurslage ist, sondern auch werkimmanent, war die Partie des Ariodante doch für den Kastraten Giovanni Carestini geschrieben, während die des Antagonisten Polinesso eigentlich von einer Altistin gesungen wurde, was in Salzburg der Counter Christophe Dumeaux übernimmt.
So wie sich historische Kostüme nahtlos mit modernen Anzügen mischen, sind auch die Bühnenräume als liminale Orte in einem Zwischenreich angesiedelt. Die Basis bildet eines der typischen Loy-Szenenbilder - kahl, minimalistisch, überdimensioniert. Der Mensch ist hier reduziert auf seinen Schmerz, verloren, degradiert in seiner Bedeutung. Zugleich wird dieser kahle Grundraum aufgebrochen, erweitert oder scheinbar nach Belieben verjüngt. Auch auf diese Weise werden die scheinbar bekannten Grenzen und Blickachsen infrage gestellt. Darüber hinaus werden Kulissenzitate aus der Barockoper eingeflochten - immer dann, wenn das Auge nach Abwechslung lechzt. Und selbst die Tanzsequenzen als Abschluss jeden Aktes sind nicht gestrichen, sondern in die Handlung als Traumsequenzen oder Partygeschehen integriert, wobei auch die Sänger zum tänzerischen Handkuss kommen.
Für diesen tiefenpsychologischen Ansatz benötigt Loy das entsprechende Ensemble - und das hat der Theatermacher in Salzburg zur Verfügung, auch wenn natürlich die Chefin im Ring letztlich das Geschehen dominiert: Dem Bühnentier Bartoli gelingt das Spiel mit den Geschlechtergrenzen ebenso mitreißend wie die gesanglich schwierige Partie. Mit Ausnahme der Rampensau Simone Kermes schafft es wohl nur eine Bartoli, sich während eines Koloraturexzesses wie bei "Dopo notte" auch noch eine Zigarre anzupaffen.
An ihrer Seite behauptete sich die junge US-Amerikanerin Kathryn Lewek als Ginevra, der mit der Mammutpartie von kleinmädchenhafter Unbekümmertheit bis zur abgrundtiefen Verzweiflung berührende Momente gelingen, was sie nicht nur schauspielerisch, sondern auch stimmlich variabel stützen kann. Und Christophe Dumeaux ist mit seinem schneidenden, nasalen Timbre der ideale karrieristisch-intrigante Widerling Polinesso.
Nicht zuletzt stechen aber auch die sonst oft vernachlässigten tiefen Stimmen hervor, allen voran Nathan Berg. Der Kanadier zeigt bei seinem Salzburg-Debüt einen fulminanten König. Einen so durchschlagenden, kräftigen und doch zarten Bassbariton eines 44-Jährigen muss man sonst suchen. Stimmlich geradlinig, was gut zur Rolle passt, gibt Norman Reinhardt, der im Vorjahr bereits in der "West Side Story" an der Seite Bartolis gestanden hatte, seinen Ariodante-Bruder Lurcanio. Und paradigmatisch für das Gesamtkonzept legt die Französin Sandrine Piau als desperate Dalinda ein sensibles Charakterporträt vor, bei dem die Stimmschönheit eher zweitrangig ist. Das Koloraturfeuerwerk wird dem naturalistischen Ausdruck untergeordnet, eine Bravourarie im halben Wahnsinn eher dahingehuscht als vokal ausgefeilt.
Deckungsgleich zu dieser Interpretation die Musiciens du Prince im Graben, die einen denkwürdigen Einstieg in Salzburg gaben. Das im Vorjahr von Bartoli in Erinnerung an die Hoforchester des Barock gegründete Ensemble schafft vom leisesten Pianissimo bis zur Tuttiexplosion eine differenzierte Interpretation der Händel-Partitur, reiht forsche Pizzicati an den breiten Bogen. Einzig sämiges Schwelgen sucht man bei dem Orchester unter Gianluca Capuano vergebens, hier ist eher resche, vibratolose Nüchternheit und eine gewisse Gehetztheit angesagt.
Am Ende steht jedenfalls ein kontrastreiches Spiel der Extreme zwischen Liebe und Hass, Angst und traumverliebter Sorgenlosigkeit, das ganz am Puls der Zeit ist und letztlich Zeit(lose)genossen auf die Bühne bringt. Entsprechend verdient standen am Ende Getrampel, Bravorufe und langer Applaus für alle Beteiligten.