Im Jahr 1998 waren Sie für "Parsifal" in Salzburg, eine gewisse Anna Netrebko sang ein Blumenmädchen. Ist sie Ihnen schon damals aufgefallen? PLÁCIDO DOMINGO: Ja, weil sie so total sicher war. Dazu kamen natürlich ihre wunderschöne Stimme und ihre Musikalität. Mir war klar, dass sie eine große Karriere machen würde. Heute sage ich: Keine andere kommt so nahe an Maria Callas heran wie sie. Ich habe, noch als Tenor, mit ihr in "Idomeneo" gesungen, ich habe eine "Manon"-Produktion mit ihr dirigiert, und ich bin glücklich, dass ich jetzt als Bariton mit ihr in Verdis "Giovanna d'Arco" in Salzburg auftreten darf.

Ihre eigene Karriere währt nun schon 52 Jahre, und Sie sind noch immer an der Spitze? DOMINGO: Sagen wir lieber so: Ich singe immer noch. Aber mit derselben Leidenschaft wie zuvor. Ich bin schon seit vielen Jahren Profi, doch ich habe die Seele eines Anfängers. Bei allem, was ich beginne, bin ich mit vollem Enthusiasmus am Werk. Unlängst hat mich jemand gefragt: "Plácido, warum tust du dir das alles an? Mit den vielen Troubles, die mit deinen Aktivitäten verbunden sind?" Ich habe geantwortet: "Ohne Troubles geht es gar nicht. Aber das ist mein Leben." Wenn sich aber Routine einschleicht, dann würde ich von einem Tag auf den anderen aufhören.

Können Sie Charaktere, die Sie singen, gleich nach der Vorstellung ablegen? DOMINGO: Bei "Otello", "Pique Dame" oder "Hoffmanns Erzählungen" ist das sehr schwer. Könnte ich gleich von der Garderobe aus nach Hause und ins Bett fallen, dann würde ich schnell einschlafen. Aber danach noch Autogramme signieren, Premierenfeier, essen und trinken und um drei Uhr ins Bett - dann kann es schon sein, dass man nachdenkt, grübelt, sich quält.

Was Giuseppe Verdi betrifft, hat "Don Carlo" für Sie besondere Bedeutung. 1967 feierten Sie damit Ihr Debüt an der Wiener Staatsoper, 1975 sangen Sie die Titelpartie unter Herbert von Karajan in Salzburg, und auch Ihre erste Plattenaufnahme bei EMI war "Don Carlo". Erinnerungen? DOMINGO: In Wien wollte ich das Publikum gleich bei meinem ersten Auftritt beeindrucken, indem ich förmlich aus einer Tür hinaussprang. Was ich nicht beachtet hatte: Es ging so steil hinunter, dass ich unweigerlich im Orchestergraben gelandet wäre. Ich schaffte gerade noch eine Notbremsung. Und in Salzburg hatte mir Herbert von Karajan, als ich ankam, mein Kostüm schon bereitlegen lassen. Ich probierte vom ersten Tag an im Kostüm.

Sie haben sich vom Tenor verabschiedet und sind wieder Bariton. Was ist das Besondere an Verdis Bariton-Partien? DOMINGO: Ihm sind zwei Kinder sehr jung gestorben. Dieses schreckliche Schicksal führt dazu, dass er danach die beste Musik für die Beziehungen zwischen Vater und Tochter, Vater und Sohn schrieb. Er drückte die Tragödie seines Lebens in dieser Musik aus. Es sind die dramatischsten und wunderbarsten Kompositionen, die man sich vorstellen kann.

Sie waren unlängst sehr krank. DOMINGO: Sie meinen, ob ich mich schon mit dem Tod beschäftigt habe? Nun: das Leben, egal, wie lang es ist, ist immer zu kurz. Alles in allem hatte ich ein wunderbares Leben, und ich wünsche mir zweifellos Gesundheit und Tatkraft für noch viele Jahre. Angesichts meiner Erkrankung habe ich natürlich nachgedacht. Schauen Sie, das Sofa, auf dem wir jetzt hier im Hotel Bristol sitzen, ist vielleicht schon 70 Jahre da, wurde vielleicht einmal repariert, aber es sieht wohl noch genauso aus wie damals. Bei uns Menschen hingegen verhält es sich mit der Vergänglichkeit anders. Deshalb denke ich, dass man jeden Tag so leben sollte, als ob es der letzte wäre. Die Ärzte haben mir jetzt nach meiner Erkrankung ein paar gute Tipps gegeben, ich werde sicher meinen Terminkalender reduzieren und mit mehr Disziplin leben. Anderseits: Vielleicht sollte man gar nicht zu viel nachdenken.

Herbert von Karajan soll eine spirituelle Seite gehabt haben. In einem TV-Porträt prophezeit er, er würde "ganz bestimmt wiederkommen". Glauben Sie an so was? DOMINGO: Sie meinen Reinkarnation? Nein, in diese Richtung habe ich noch nie gedacht. Doch Leute, die sich damit beschäftigen, haben mir gesagt, ich wäre früher Christoph Columbus gewesen. Ich habe auch ein Bild von Columbus gesehen, also, da schaut er mir wirklich ähnlich.