Es ist ein Ort der Verheißung: ein – zunächst – namenloser Nachtklub in Paris. Dort, so scheint es, ist alles möglich. Die Nacht hat ihre eigenen Gesetze. Jedes Wochenende mutiert die Tanzfläche zur hedonistischen Ausnahmezone; zur Oase der Realitätsflucht, der Freiheit und Körperlichkeit, zur Heimat einer Schicksalsgemeinschaft. Jene der Tanzwütigen, der Sich-Treiben-Lassenden, der Aussteigerinnen und Aussteiger vom Alltag.
In "Das Tier im Dschungel", der sehr freien Version einer Kurzgeschichte von Henry James, feiert Filmemacher Patric Chiha die Klubkultur, die Nacht, den Rausch, die Techno-Beats, das Jetzt – und die Menschen dazu. Es beginnt mit dem ersten Mal in einem neuen Klub, 1979. Vier Freunde stellen sich an, ein Paar Damenfüße klappert in High Heels und roten Strümpfen auf das Ereignis zu. Die Türsteherin (großartig: Schauspielerin und Punk-Legende Béatrice Dalle) scannt mit Expertise am Eingang, wer zu dieser Schicksalsgemeinschaft passt und wer nicht und wem Einlass gewährt wird. Sie fungiert auch als Erzählerin. Die bei der Berlinale uraufgeführte Ode an die Nacht ist aber mehr als ein Rausch – es ist eine Langzeitbeobachtung zweier einsamer Seelen, die sich am Häusl im Klub wieder begegnen. Mehr als 20 Jahre lang folgt das Publikum in dieser Geschichte May (Anaïs Demoustier) und John (Tom Mercier). Er wartet auf das entscheidende Etwas, das sein Leben demnächst auf den Kopf stellen könnte. Er glaubt, für Größeres bestimmt zu sein und weiht sie in sein Geheimnis ein. Jedes Wochenende treffen sie sich im Klub und warten. Vor lauter Warten verpassen sie Chancen, Freundschaften, die Liebe und das Leben, während sie mitten im pulsierenden Klub stehen. Die Kamera schweift über die Tanzfläche, das Körpertheater, den Rausch, die Ekstase. Die Jungen werden älter, die Beats verändern sich genauso wie die Frisuren und die Mode. Draußen zieht die Weltpolitik vorbei, manchmal dringen TV-Schnipsel oder Nachrichten in die geschützte Atmosphäre der Nacht: der Wahlsieg François Mitterrands im Mai 1981, HIV und Freunde, die an Aids sterben, der Mauerfall und 9/11.
Glühende analoge Bilder von Kamerafrau Celine Bozon, fantastische Licht- und Schattenspiele und dazu die Choreografie der Ekstase und Enthemmung sorgen in manchen Szenen für eine ungeheure Sogwirkung, in anderen wiederum für Längen. Es ist ein fiebriger Diagonale-Eröffnungsfilm – ein Stück Weltkino auf Französisch mit Untertiteln – für das nicht alle schwärmen werden. So ist das mit Samstagabenden aber im echten Leben auch.
"Selten gab sich ein österreichischer Film mondäner", schwärmten die Diagonale-Intendanten Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber für die französisch-belgisch-österreichische Koproduktion. Chiha, geboren 1975 in Wien, lebt seit Ewigkeiten in Paris, wo er auch Modedesign studierte, später Filmmontage in Brüssel. 2010 feierte sein Debüt "Domaine" in Venedig Premiere, es folgte "Boys Like Us" (2014). Im Dokumentarfilm "Brüder der Nacht" (2016) begleitete er junge Roma in Wien, die ihre Körper verkaufen. In der Dunkelheit werden die zarten Burschen zu Königen. In der hypnotischen Doku "Wenn es Liebe wäre" (2019) beobachtet er die Crew von Gisèle Viennes Performance "Crowd". Und immer wieder: tanzende Körper, vibrierende Musik, Super-8-Bilder – ein Leinwand-Rausch, eine Kinoerfahrung.
Genauso wie der Aperitivo: Viktoria Schmids siebenminütige Miniatur – ein dialogfreier Ritt voller Farbüberlagerungen und Perspektivenwechseln hoch über den Wolkenkratzern und durch die Häuserschluchten von New York. Eine Ode ans Kino.