"Der schönste Film", hört man Michael Glawogger eingangs sagen, "ist einer, der nie zur Ruhe kommt." Die Doku "Untitled", die am Montag im Berlinale-Panorama Weltpremiere feierte und im März die Diagonale eröffnet, ist ein wahrlich schöner Film geworden - realisiert von der Cutterin Monika Willi mit jenem Material, das der Regisseur bis zu seinem Tod auf seiner ziellosen Reise gesammelt hat.

Im Dezember 2013 hatte sich der Schöpfer von Dokumentarepen wie "Whore's Glory" und "Workingman's Death" sowie Kultkomödien wie "Nacktschnecken" mit Kameramann Attila Boa und Tonmann Manuel Siebert für einen thematisch ungebundenen, ein Jahr umspannenden Film auf Weltreise begeben. Nach nur vier Monaten und 19 Tagen Dreh am Balkan, in Italien, in Nordwest- und Westafrika starb Glawogger am 23. April 2014 an Malaria.

Poetischer Film über das "In-der-Welt-sein"

Sein tragischer Tod im Alter von nur 54 Jahren hinterließ ein klaffendes Loch in der heimischen Filmlandschaft und in seiner langjährigen Vertrauten und Filmeditorin den "großen Wunsch, dass diesem Tod zum Trotz doch noch ein Film entstehen sollte". Für Monika Willi, die aktuell auch den neuesten Michael-Haneke-Film "Happy End" schneidet, ist es die erste Co-Regiearbeit. Aus 70 Stunden Rohmaterial sowie Texten Glawoggers hat sie Fragmente zu einem kraftvollen, aufwühlenden und poetischen Film über die Bewegung, das Reisen und "In-der-Welt-sein" verwoben.

"Untitled" springt konsequent zwischen Schauplätzen hin und her, geht von überfüllten, lauten afrikanischen Megacities zu brachliegenden, stillen Landschaften Kroatiens über, fängt Menschen und Tiere gleichermaßen ein und zeugt von Glawoggers charakteristischem poetischen Realismus, der uns immer auch etwas über unsere globalisierte Welt erzählt. Der Übergang ist meist hart, der Fokus liegt auf Bewegung, auf Körperlichkeit und Energie, die mal in harte Arbeit, mal in Tanz und Spiel fließt. Erst in intimer Nahaufnahme, dann in der Totale fängt Boa mit ruhiger Handkamera die Suche nach Diamanten unter winzigen Sandsteinchen oder nach Brauchbarem unter in der Wüste deponiertem Müll ein, zeigt muskulöse Körper, die im senegalesischen Sand ringen.

Roter Faden: das Prinzip des Zufalls

Der rote Faden ist Glawoggers Konzept von "Serendipity", vom glücklichen Zufall, den es zu umarmen und festzuhalten gilt. Am längsten hallen jene fast magischen Momente nach, über die Glawogger und sein Team scheinbar nur gestolpert sind und in denen eine große Neugier und tiefe Beobachtungsgabe mitschwingen. Da ist der erste Gehversuch einer soeben geborenen Ziege im Nirgendwo, das Fußballspiel einbeiniger afrikanischer Männer am Strand, oder das Ende eines Blackouts, das Freudenschreie in ganz Sierra Leone nach sich zieht.

Der Poesie des Zufalls steht die Gewalt im Alltäglichen gegenüber. Immer wieder sehen wir Kämpfe, die aus einer Ausweglosigkeit heraus losbrechen: Ein afrikanischer Jugendlicher wird von erst zwei, dann immer mehr Männern kollektiv verprügelt, angekettete, verwahrloste Esel verletzen einander unter der gleißenden Sonne, Buben schubsen und hauen sich auf einer Müllhalde um Essens- und Metallreste. Da mutet es wie eine willkommene Pause mit Augenzwinkern an, wenn die Kamera einen Moment lang auf einem fiepsenden, fluffigen Hundewelpen verharrt, der in einem verlassenen Haus aus einer Teppichrolle stolpert.

Birgit Minichmayr liest die Texte

Auf eine genaue Verortung wird ebenso verzichtet wie auf Dialog, Inserts oder Interviews. Stattdessen hören wir Wolfgang Mitterers mal pochenden, dann fast meditativen Soundtrack, und liest Fiona Shaw in der englischen bzw. Birgit Minichmayr in der deutschen Fassung Anekdoten und Gedanken, die Glawogger für Reise-Blogs zweier Tageszeitungen niedergeschrieben hat. Mal sind die Texte dem Geschehen auf der Leinwand genau zuzuordnen - etwa, wenn von einem wegen Erdbebengefahr verlassenen Tal die Rede ist, in dem Ruinen von Pflanzen umrankt sind und die Vergangenheit für die unweit niedergelassenen Bewohner "nur wenige Schritte entfernt ist". Oder sie sind assoziativ, beschäftigen sich humorvoll und geistreich mit grundlegenden Fragen des Lebens, mit Freiheit und Menschsein und Verständigung, und hinterlassen nicht selten den Eindruck, dass Glawogger geahnt haben könnte, was auf ihn zukommt.

Gegen Ende legt Willi über die Bilder des verarmten, durch seine Küstenlage irgendwie idyllischen Harper in Liberia Glawoggers ausformulierten Traum vom Verschwinden. "Die Welt ist so groß, da muss es doch einen Ort geben, wo man sich verstecken kann", so seine Worte. "Untitled" ist eine würdevolle, eindringliche Verabschiedung von einem großen Chronisten, der von Lust und Neugier getrieben war; und die Aufforderung, zu leben, zu reisen, zu beobachten - und sich einfach mal auf den Zufall einzulassen. Der Film eröffnet am 28. März die Diagonale in Graz und läuft offiziell am 31. März im Kino an.