Es war dann doch einer der hässlicheren Politskandale in der jüngeren und an Infamitäten nicht eben armen Geschichte des Vereinigten Königreichs: Im Herbst 2010 wurde öffentlich, dass der Undercover-Polizeioffizier Mark Kennedy jahrelang politische Protestgruppen infiltriert und Protestaktionen unter anderem in Kopenhagen, Berlin und Dublin sabotiert hatte – inklusive Brandstiftung und Körperverletzung. Auch hatte er mit mehreren Frauen sexuelle Beziehungen aufgenommen. Gravierende Menschenrechtsverletzungen und höchstgradigen Machtmissbrauch attestierte ihm das Gericht deswegen im Vorjahr: Kennedy habe mindestens eines seiner Opfer „grob entwürdigt, erniedrigt und gedemütigt“ – das alles vermutlich mit Wissen seiner vorgesetzten Behörden.
In ihrem neuen Roman „Als lebten wir in einem barmherzigen Land“ greift nun die schottische Autorin A. L. Kennedy den Fall um ihren Namensvetter auf: V-Mann Buster ist hier der zweite Protagonist (und die alternative Erzählstimme) in der Geschichte der Lehrerin Anna, die als junge Antikriegsaktivistin ahnungslos eine Beziehung mit ihm einging – und ihm nun zufällig wiederbegegnet.
Bösartig dämliche Eliten
Glasklar sind sowohl Prosa als auch analytische Kraft dieses Romans: Kennedy, deren eindringliche poetische Sprache von Ingo Herzke und Susanne Höbel mit souveränem Swing ins Deutsche übertragen wurde, erzählt darin nicht nur von den Verwüstungen eines intimen Verrats, sondern leuchtet mit lapidarer Präzision eine nahezu demolierte Gesellschaft aus, von politischen Horrorclowns und bösartig dämlichen Eliten schon mindestens bis an den Rand des Untergangs regiert.
Kriegstreiberei, Korruption, Skandale, Polizeiterror, Aushöhlung der Demokratie: Kennedy muss nichts erfinden, sie bedient sich an bekannten Ereignissen der britischen Politik. Folgerichtig holt Anna, während sie ihre Schulkinder einigermaßen heil durch den britischen Lockdown zu manövrieren versucht, als Erzählerin eine alte Geschichte nach der anderen aus dem gut gefüllten Giftschrank ihrer Erinnerung. Im Plauderton geht es da sowohl durch ein Leben als auch durch ein Gesellschaftssystem, deren Gewissheiten nachhaltig erschüttert worden sind.
Bei aller Düsternis blitzt dabei auch reichlich Komik auf: Wie kaum eine Autorin schafft Kennedy, die bekanntlich auch im Stand-up-Comedyfach umtriebig ist, den Spagat zwischen quasi-apokalyptischer Vision und der Bereitschaft zu hoffen. Bemerkenswert: Für dieses spannende, kluge Buch hat sich noch kein britischer Verlag gefunden, es erscheint auf Deutsch zuerst. Schon fast wieder ein Indiz für die politische und intellektuelle Verheerung Großbritanniens, die Kennedy in ihren Romanen so unheilschwanger wie amüsant analysiert.
Ute Baumhackl