Hat ein Mord auch Folgen für jene, die gar nicht wissen, dass er stattgefunden hat? Eine suggestive Frage, die Patricia Brooks in ihrem Roman "Der Flügelschlag einer Möwe" eindeutig bejaht. Sie legt einen weit verästelten Cold-Case-Krimi zwischen Wien und Triest vor, der zudem das treffende Bild einer Lost Generation zeichnet.
Die Redewendung "Wenn in China ein Fahrrad umfällt" ist zur Metapher für absolute Bedeutungslosigkeit geworden. Der Meteorologe Edward N. Lorenz wirft - im als Motto dem Roman vorangestellten Zitat - die Gegenfrage auf, ob nicht der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen könne. Der Schmetterlingseffekt bestimmt auch den Plot des Romans, wenngleich der Auslöser in diesem Fall ein Mord ist - und somit nicht unbedingt in die Kategorie kleinster Ursachen einzureihen.
Eine Maturareise nach Triest im Jahr 1980 bildet den Ausgangspunkt für sich über Jahrzehnte bis in die Gegenwart erstreckende, detailreich berichtete biografische Ereignisse. Die persönlichen Schicksale der beteiligten Personen - von Tati, der Augenzeugin des Mordes, die ein hartnäckiges Trauma davonträgt, über den smarten Willi, der mit aufgefundenem Erpressungsgeld seine Existenz begründet, bis zur damals 15-jährigen Taschendiebin Rosanna, die später als erfolgreiche Gastronomin in Wien Fuß fasst - sind miteinander samt Nachkommenschaft auf teils ersichtliche, teils unbewusste Weise verknüpft.
Es ist jedenfalls eine "merkwürdige Generation", deren schwieriges Los Brooks skizziert und "die in der Zeitgeschichte zwischen den Stühlen sitzt." Zu jung für die 68er, tendenziell links sozialisiert, gegen Atomkraft und Staudämme, gleichzeitig konsumorientiert und durchaus kapitalistisch gesinnt. "Sie sind wie verwöhnte Kinder", lässt Brooks die junge Asha über ihre Elterngeneration urteilen. "Umso perplexer waren sie dann, als das Blatt sich zu wenden begann. Sie empfanden es als ungerecht und wussten nicht, wie ihnen geschah."
Neben diesem gesellschaftlichen Befund gibt es im Roman durchaus weitere beachtliche Fundstellen: Kluge Einsichten wie "Im Jetzt liegt immer ein Verlust" oder "Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern, nur notdürftig reparieren", Sätze wie "Du hättest ihn nicht schlagen dürfen, aber ich bin sehr froh, dass du es getan hast" (zur Kellnerin angesichts eines übergriffigen Restaurantgasts). Ratsam ist es - und keiner Überwindung bedarf es -, das Buch in einem Durchgang zu lesen, um nicht den Überblick zu verlieren im doch beträchtlichen Personalaufkommen. Der bosnische Immigrant Milo, der als Baggerfahrer zu Beginn vorgestellt wird, hat seine Schuldigkeit bald getan, so mancher Name fällt, um nie wieder vorzukommen. Aber so ist es wohl auch im realen Leben, von dem Brooks als aufmerksame Beobachterin und Zeitgenossin kundig zu berichten weiß.
Ewald Baringer