Ein Mann zwischen Euphorie und Abgrund in ein Roman "über die Bruchstellen des Lebens", wie am Schutzumschlag vermerkt. Naja Marie Aidt schrieb mit "Schere, Stein, Papier" eine zutiefst verstörende, beklemmende Geschichte, die wegen der starken Ausprägung der Charaktere fasziniert, die wegen aufgesetzt wirkender Handlungselemente allerdings den Leser auch auf Distanz hält.
"Ich stehe immer nur gerade so mit einem Fuß in dieser Welt", lässt die dänische Autorin ihre Hauptfigur Thomas in dem mehr als 440 Seiten starken Roman schon ziemlich am Anfang denken. "Ich spiele mich selbst in dieser Welt. Aber ich bin bloß das, was ich spiele. Auf immer und ewig. Es ist erbärmlich." Dabei ist Thomas als Geschäftsmann erfolgreich und könnte auch privat glücklich sein. Aber die Beziehung zu seiner Freundin Patricia zeigt rasch: Thomas weiß nicht so recht, was er will.
Am Anfang steht ein Tod
Die längst verstorbene Mutter hatte die Familie früh verlassen, Thomas und seine Schwester Jenny wuchsen bei ihrem Vater, einem Kleinkriminellen, auf. Mit dessen Tod beginnt der Roman. Die alles andere als glückliche Beziehung zum Vater hat die Geschwister geprägt, oder besser: traumatisiert. Thomas hasst ihn, kommt aber auch nicht von ihm los. Als Thomas die vermeintliche letzte Beute seines Vaters findet, beschließt er, das Geld zu behalten. Mit Folgen. Und dann taucht ein junger Bursche auf, der behauptet, der Ziehsohn des Verstorbenen gewesen zu sein - und der ein ganz anderes Bild des Vaters zeichnet.
Die Geschichte in "Schere, Stein, Papier" spielt über ein paar wenige Tage und tritt meist in den Hintergrund, um den Gemütsverfassungen, Wesenszüge und Schwächen der Protagonisten viel Raum zu geben. Zerplatze Lebensträume, Ängste, Lebenslügen, unerfüllte Wünsche an Beziehungen - die Palette des Scheiterns ist groß und gipfelt in Aggression und Paranoia. "Ich bin ein einsamer alter Narr, der alle vergrault. Ich habe offenbar alle vergrault", sinniert Thomas. "Ich bin ein Versager. Jetzt kommt das Selbstmitleid, hässliches Selbstmitleid. Pfui Teufel, es stinkt zum Himmel."
Hilfe benötigt
Thomas, der kurz vor dem Zusammenbruch steht, bräuchte dringend Hilfe, auch seine Schwester. Aber beide taumeln weiter durchs Leben, verdrängen ihre Probleme und türmen diese zu einem unlösbaren Gesamten auf. Aidt beschreibt gekonnt Verdrängungsmechanismen und Selbstbetrug, führt mit präzis gesetzten Sätzen, die Gedanken und alltägliche Handlungen ausführlich beschreiben, vor Augen, wie der soziale Background das Leben prägt - und wie schwer man diesem entkommt.
Leider ist "Schere, Stein, Papier" mitunter aber allzu sehr bemüht. So wirkt es etwa zwanghaft und konstruiert, wie die Autorin ihre Liebe zur Lyrik in die Geschichte einbaut. Da werden Rilke, Celan, Whitman und andere Größen bei einem Familientreffen in Bausch und Bogen zitiert, so dass man nicht recht weiß: Braucht das die Geschichte wirklich oder will uns die Autorin ihre Einflüsse plakativ vor Augen führen? Am Ende blickt man distanziert und angewidert auf Thomas. Vieles bleibt offen, vieles nur angerissen, vieles zu hinterfragen - das ist schon wieder eine Stärke des Buchs.
Wolfgang Hauptmann