Die Veranstaltung wurde vom Krieg in der Ukraine überschattet. Vor der Verleihung gab es unter dem Titel "Recht auf Frieden" eine Friedensaktion mit anschließender Kundgebung, zu der die Stadt Leipzig, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels und die Nikolaikirche aufgerufen hatten. Auch Karl-Markus Gauß kam schon zu Beginn seiner Rede auf den Krieg zu sprechen. "Was sind das für Zeiten, in denen es nicht möglich ist, eine Dankesrede auch nur zwei Wochen im Voraus zu verfassen! Kaum hat man sie schriftlich mit gebührendem Ernst und angemessener Freude verfertigt und zu Ende gebracht, wäre es schon ruchlos, sie vorzutragen, hieße es doch zu schweigen über so vieles, das seither geschehen ist."
Die erste Version seiner Rede, begonnen Ende Jänner, habe von seinen Büchern und seinen Reisen, bei denen er häufig von seinem Interesse an den oftmals vergessenen Minderheiten Europas angetrieben gewesen sei, gehandelt. "Doch dann kam die Nachricht, dass die Leipziger Buchmesse abgesagt wurde, nicht etwa weil es die Pandemie erforderte, sondern manche aus der Verlagsbranche selbst allzu zögerlich waren, vor allem aber ausgerechnet die mächtigsten Verlagskonzerne ihre Teilnahme stornierten. Mir erschien das als Verrat, als Verrat an der Literatur selbst und an den vielen, die ihr aus Berufung und von Berufs wegen ihre Zeit, ihre Talente, Liebe und Leidenschaft widmen, auf welche Weise und auf welchem Posten immer." Man dürfe nicht die Buchhaltung über Bücher und Buchmessen entscheiden lassen, so Gauß. Mit der russischen Invasion sei jedoch auch seine zweite Dankesrede obsolet geworden.
Ein einziges Kriegsverbrechen
"Unbestreitbar ist, dass dieser Krieg selbst ein einziges Kriegsverbrechen darstellt, wobei er in Russland ja bei Strafe von bis zu fünfzehn Jahren Haft nicht als solcher, sondern als 'militärische Sonderoperation' bezeichnet werden muss. Der Angriffskrieg ist auch als militärische Sonderoperation gegen die Sprache angelegt", wobei sich eine Tendenz fortgesetzt habe: "Wir haben in den letzten Jahren erlebt, wie skrupellos Wörter in unseren Ländern umgedeutet wurden, indem sich Gegner von Impfungen zu tapferen Dissidenten, wagemutigen Rebellen, gar zu Widerstandskämpfern erklärten oder sich des Judensterns bemächtigten, um sich den Status von Opfern anzueignen." Die Ukraine sei "ein Land vieler Nationalitäten, mit verschwimmenden Übergängen", das nicht einfach über den Umweg der Sprache geteilt werden könnte. Deutlich distanzierte sich Gauß daher auch von der Forderung von vier der wichtigsten Literaturinstitutionen der Ukraine, die Anfang März gefordert hatten, russische Verlage und Autorinnen und Autoren zu boykottieren. Diese Forderungen seien unannehmbar, töricht und "nützen der ukrainischen Sache keineswegs, sondern desavouieren sie und zeigen nicht den geringsten Respekt vor jenen Russinnen und Russen, die heute in ihrem Land auf die Straße gehen, ihr Wort erheben", sagte Gauß.
Die Wiener Literaturwissenschafterin Daniela Strigl befasste sich in ihrer Laudatio mit den "sieben Sachen des Wanderers", dem symbolischen Rucksack des unermüdlichen Forschers und Reporters Karl-Markus Gauß: Neugier, Trittsicherheit, Schwindelfreiheit, leichtes Gepäck ("Gauß ist als Einzelgänger unterwegs, er kommt ohne Seilschaft aus. Auch deshalb setzt er auf leichtes Gepäck: keine ehernen Wahrheiten, kein Pathos, kein Denkverbot, keine Vorurteile."), festes Schuhwerk, Kompass und Kondition. "Die Mühen der Ebene entmutigen diesen Wanderer nicht und auch nicht die Durststrecken", so Strigl und wünschte "dem unaufhörlichen Wanderer andauernde Ausdauer auf seinem Weg".