Das „Gänsespiel“ ist sehr alt, stammt aus dem sechzehnten Jahrhundert und hatte Vorläufer in der ägyptischen Antike und bei den Mandalas der Buddhisten. Die Spielmechanik als Erzählstruktur. Jeder kann sie benützen und das Brettspiel auf den banalen Küchenboden legen und Mitspieler dazu einladen. Design und Narrativ füllen die Struktur. Die Regeln sind so banal, dass das Spiel nicht ausstirbt. Es ist so flexibel, dass es immer aktuell ist. Es dient als Kriegsspiel und der Propaganda für Kriegstreiber und rassistische Mörder wie auch als „Mensch ärgere dich nicht“. Ein empfohlener Zeitvertreib. Trotzdem: Spiele haben keine Unschuld.

Christoph Schlingensief legte die Struktur einer Reality TV Show als mörderisches Werk frei. Die Gnadenlosigkeit eiskalter Mechanik auf Asylbewerber angewandt, funktioniert ohne Menschlichkeit. Die Gesellschaft spielt mit diesem Faktor. Das Gesetz nicht. Man muss sie ihm geben. Menschen leben und exekutieren es.

Ich ziehe meine Spielfigur weiter. Sie ist eingespannt zwischen Angstphantasien und Weltuntergang. Die Würfel sind gefallen, da wir so weitermachen auf dem Planeten. Globalisierung mit Neoliberalismus gepaart macht uns mit Gewinnmaximierung kaputt. Ein weiteres Ereignisfeld: China produziert mit einem 20 Prozent Bruttoinlandsproduktzuwachs, während Europa für eine Runde im Lockdown aussetzt. Dagegen muss man jetzt aufstehen und sagen: Hallo, was macht das mit uns?

Ein Ereignisfeld könnte den Ausnahmezustand verkünden und die Demokratie hinauskickeln. Die Philippika der abgehalfterten Unvernunft wird gegen die Herren Kurz und Anschober geritten. Ja, sie haben Fehler gemacht und man kann die Managementauftritte nicht mehr hören. Sie verstopfen die Kanäle und sorgen für den nächsten Lockdown. Aussetzen. Ein Feld könnte Slavoj (Z)i(z)ek gehören, der im Virus das Potential zur Neuausrichtung der Welt sieht. Der nächste Wurf befördert mich, ich lande auf dem Feld der Liebe zur Kunst, die meine Spielfigur ein paar Felder nach vorne laufen lässt, ich darf hintereinander zwei Mal würfeln. Es bringt mich dem Ziel näher. Doch da lauert schon wieder das Feld Weltuntergang.

Das Jahr schließt und die letzten Tage haben am längsten von allen gedauert. Es wird anders kommen, nun beginnt der Wettlauf mit dem Virus. In England ist es mutiert. Virologen sagen, je geschwinder seine Verbreitung, umso mutierter seine Versionen. Dagegen hilft Ausmisten nichts mehr. Das Virus überholt uns und der Brexit lässt auf sich warten. Fluchtwillige vieler Hotspots der Welt teilen die Grenzerfahrung Corona mit uns. Es hat die Qualität, uns zu verändern.

Diese Einsicht kommt den Ärmsten nicht zugute. Die Regierungslinie heißt, Ratten sollen die Kinder im Schlamm weiterbeißen. Ein Solidaritätsgewinn ist aus den Lagern der Regierung nicht zu verzeichnen, aber wir hier sind aufgerufen, Nächstenliebe zu leisten, um dem Teufelsvirus nicht in die Hand zu arbeiten. Wir leben auseinandergerückt und diese Kluft hält unser Gesundheitssystem gesund. Körperliche Nähe wird auf später verschoben. Das heißt, lieber in kein Boot steigen, lieber das Alleinsein bevorzugen, das Leben auf der Luftmatratze im Wohnzimmer auskosten und nicht miteinander ins Bett steigen. Außer, Gott will es so und es ist nicht zu vermeiden, ein Kind zu zeugen.

Mir ist manchmal sehr fad, ich will zumindest einkaufen gehen. Das kann ich zwischendurch, wenn es die Spielregeln erlauben. Das Interesse der Allgemeinheit ist darauf gerichtet, den Handel zu beleben, was eine Gemeinheit ist. Denn kaum geht man einkaufen, wird die Stopptaste gedrückt. Als müsste man im Spiel mit seiner Figur für ein paar Felder zurückgehen. Und dann kommt sie, die Sehnsucht, als wäre man im Arrest und schaute durch die Gitterstäbe in die Freiheit. Diese will ich, anstatt Ablenkung durch die internationalen Plattformen der Social Media, die alles andere als sozial agieren. Sie laben sich an unseren Botschaften und verspeisen den Mehrwert. Die Regeln dieser Betriebsmaschinen sind so unsozial wie jedes Regelwerk; kalt reizt es die Bedürfnisse der Menschlichkeit aus, heuchelt Nähe und macht unfrei.

Der Sommer war fast wie jeder andere. Es gab Vorteile, die dank Virus die Natur gesunden ließen. Das war zu erwarten, ändert aber nichts mehr am Klimawandel, auf dessen Rutsche wir sitzen. Das Gesundheitssystem, das wir nicht sehen, hören, riechen aber fühlen, ist ein straff organisierter Apparat, der sein Auswahlverfahren hat. Menschen müssen dann über Leben und Tod entscheiden. Davor haben wir Angst, obwohl gerade die Regeln des Gesetzes eine Tür zur legalen Sterbehilfe aufmachen. Wer ist der Feind im Nebel? Es ist nicht das Gedankengut in einem mit Kopftuch bedeckten weiblichen Haupt, denn die Bedeckung darf getragen werden. Der Bösewicht schlägt zu, ein islamistischer Attentäter, eine maligne Zelle, die mit Corona nichts zu tun hat. Wir warten, bis er sichtbar wird, und leben in Unzeit, in der Wartezeit.

Das wären also meine Ereignisfelder des Jahresrückblickes, betrachte ich den Lauf des Geschehens. Das kann noch nicht alles gewesen sein.
Ich startete ja das Jahr 2020 mit der Fertigstellung eines Buches, Wettkampf mit dem Ungeheuer Sprache in der Kemenate. Das Schreibzimmer ist eine Arena und als ich meine selbst verschuldete Unmündigkeit mit der letzten Korrektur überwunden hatte, war es Frühling und ich überging Corona im Park. Die Würfel über das Schicksal des Buches fielen, ich landete als Autorin auf einem günstigen Ereignisfeld. Und so kam es, wie nicht erwartet, Würfelwurf für Würfelwurf bleibe ich bei der Spielmechanik eines „Gänsespiels“, um das letzte Jahr zu beschreiben.

Nichts geht über den Zufall des Gedankens. Bei diesem Wurf muss man eine Runde aussetzen und schreiben, bis zum Attentat am 2. November. Ein blutiges Ereignisfeld für die ganze Welt, wenn man Kabul nicht mitbedenkt.

Ich würfle nun mit gesteigerter Spannung. Das Spiel zeigt, was ein paar Regeln ausmachen können. Die Zeit vergeht schneller. Nur die Immersion des Schreibens hat eine solche Power. Corona wirkt doch auch wie eine Zeitmaschine. Sie stottert halt.

Wochentage können wir schon nicht mehr auseinanderhalten. In Coronapausen wird zum Buch gegriffen, aber die Konzentration ist nicht zu halten. Man will sich nicht selbst unterhalten müssen. Das muss man nämlich üben, bis es gelingen kann. In der Zwischenzeit sind wir Gipfelreiter der statistisch erhobenen Infektionszahlen.

Die kollektive Grenzerfahrung ist das Warten. Auf was?

Und so sitzen wir da und warten darauf, dass die Zeit vergeht, während sie auf das Ende aller Zeiten zuläuft. Soll der Messias kommen?
Nein, der Impfstoff, das Feld des übersprungenen Weltuntergangs. Sonst wäre das Spiel ja aus.

Bitte nicht vergessen, es gibt die „To-do-Liste“ und da steht Klopapier darauf. Die ganze Welt hat das gesehen, was wir sozusagen für Scheißer sind. Der Rest ist ohne Struktur. Es ist Zeit für die inneren Werte.

Aber welche sind es nun, auf die wir uns konzentrieren? Wir haben ja nicht einmal mehr das Gefühl für Würde, sonst hätten wir Weihnachten nicht zu zehnt gespielt, sondern vorbeiziehen lassen.
Der Feind im Nebel ist nicht der Fremde, sondern die Mechanik, in der wir stecken. Am Ziel stehe ich wieder am Anfang inmitten des Lockdowns.

© KK