Die Heimat ihrer Sprache war der Zwischenraum, die Schwelle, die unprätentiöse Latenz. Mit der anderen Heimat, jener gemeinhin geografisch festmachbaren Größe, verband die Dichterin ElfriedeGerstl hingegen zeitlebens chronisches Misstrauen. Heimat sei Last und Fund, schrieb die vor zehn Jahren in Wien verstorbene Dichterin. „Jeder Fund von Verlust bedroht. Heimat kann man nicht buchen, nur suchen.“

Elfriede Gerstl war eine Sammlerin. Von Erinnerungen, Kleidung und Worten sowieso. 1932 in Wien geboren, überlebte das Kind jüdischer Eltern den nationalsozialistischen Terror als U-Boot in Wien, versteckt in abgedunkelten Wohnungen und Kellern. Lange Zeit schwieg sie sich öffentlich über diese isolierten, von der Angst vor der Deportation geprägten Jahre aus und wollte als Autorin „Echo für meine Literatur, nicht für mein Schicksal“ erhalten. Oft sei sie dazu ermuntert worden, ihre Erfahrungen aufzuschreiben, „weil da wäre mal eine Anne Frank, die nicht zu Tode gekommen ist.“

Und doch: Wegzudenken sind die Erfahrungen bei der Lektüre ihrer Texte nicht und selbst Wegbegleiterin Elfriede Jelinek stellt sich in Bezug auf Gerstl die Frage: „Wie soll man über einen Menschen sprechen, der von den Nazis dafür vorgesehen war, nicht mehr da zu sein“.
Auch wenn der österreichische Literaturwissenschaftler Wendelin Schmidt-Dengler Gerstl einmal attestierte, ihre Texte würden zum Besten gehören, was die deutschsprachige Prosa im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat: Erfolg im Sinne großer Öffentlichkeit erlebten ihre Bücher nie.

Als ein Flaggschiff ihres Schaffens gilt der 1977 nach langjährigen Verzögerungen erschienene Montage-Roman „Spielräume“, in dem sich deutlich Querverbindungen zur Poetik der Wiener Gruppe erkennen lassen. Mit deren Mitgliedern (Oswald Wiener, Konrad Bayer, Gerhard Rühm,H. C. Artmann und dem kürzlich verstorbenen FriedrichAchleitner) und Konzepten war Gerstl vertraut, setzte aber im Gegensatz zur Avantgarde-Truppe auf leisere Mittel: Gerstl vermied die methodische Festlegung, unterwanderte bornierte Repression in ihren Texten ironisch und nicht mit jener dandyhaften Provokation, wie es ihre Zeitgenossen Artmann und Bayer mit einer einiger Meisterschaft taten.

„Alles was man sagen kann, kann man auch beiläufig sagen“, ließ sie einmal in Anlehnung an Ludwig Wittgenstein fallen. Und erzielte mit dieser Beiläufigkeit ihre charakteristische, punktgenaue Treffsicherheit.
Abseits der „Spielräume“ blieb Gerstl der kleinen Form, dem Fragmentarischen treu und widmete sich nicht selten dem trivialen Augenblick, ohne dabei aber selbst trivial zu werden. Präziser Witz traf auf Skepsis; das Misstrauen gegenüber Heimatbegriffen auf Wiener Lokalkolorit: Gerstl, eine zierliche Person mit charakteristischem Herren-Hut und roten Locken, wusste, wie sich aus Widersprüchlichkeiten ein Mehrwert ableiten lässt: „Wenn ich will, bin ich mir ein Rätsel. Und wenn ich will, bin ich mir sonnenklar.“

„Wer ist denn schon zuhause, wer ist denn schon zuhause bei sich“, stellt die Autorin einmal unbeantwortet in ihren Gedichtraum, in dem ihre Stimme seit zehn Jahren nach hallt: Gerstl starb am 9. April 2009 in Wien.