Woran denken Sie spontan, wenn Sie heute die Adresse „1550 Remo Drive“ hören?
Frido Mann: An das Haus meiner Großeltern Thomas und Katia Mann in Pacific Palisades, Kalifornien. Und vor allem an meine Großmutter, die mir – ich war damals vier, fünf Jahre alt – diese Adresse immer beim Gutenachtsagen eingebläut hat, damit ich sie auswendig kann, falls ich mich einmal verirre.


Ihr neues Buch ist eine persönliche Zeitreise zurück in dieses Haus, das 2016 von der deutschen Bundesregierung gekauft wurde und das als transatlantisches Begegnungszentrum dienen soll. Wie schwierig wird dieser Dialog werden?
Kalifornien ist noch immer eine Oase, aber in den USA regiert ein Popanz als Präsident. Und Europa wird von giftigen antidemokratischen Strömungen umspült. Der Dialog wird also schwierig, aber er muss unbedingt geführt werden.


Ihr Großvater Thomas Mann hat 1947, nach seiner Rückkehr aus dem US-Exil, in einer beschwörenden Ansprache an die Verantwortung der Menschen appelliert, der ideologischen Anziehungskraft totalitärer System zu widerstehen.
Da sieht man, wie aktuell Thomas Mann auch heute noch ist. Denn aus genau dieser Rede hat der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier bei der Eröffnung des Mann-Hauses zitiert.


Wie lange hat Ihre Familie in diesem Haus gelebt?
Der Weg aus Nazi-Deutschland war ein langer, endgültig in die USA übersiedelt ist meine Familie 1938. Das Haus in 1550 Remo Drive haben die Manns von 1942 bis 1952 bewohnt. Den Weggang aus den USA hat mein Großvater als zweite Vertreibung – Stichwort McCarthy-Ära – empfunden. Als Kind und Jugendlicher habe ich viel Zeit in diesem Haus verbracht. Mein Großvater hat mir Märchen vorgelesen, wir haben lange Spaziergänge unternommen.


Michael Mann, der jüngste Sohn von Thomas und Katia, war Ihr Vater. Sie gelten als Lieblingsenkel von Thomas Mann, der in Gestalt des Nepomuk Schneidewein aus dem Roman „Doktor Faustus“ in die Literaturgeschichte einging. Wie groß ist die Bürde, ein „Mann“ zu sein?
Man sieht vor allem an meinen Onkeln und Tanten – Erika, Klaus, Golo, mein eigener Vater –, dass sie sehr unter diesem Namen gelitten haben. Ich selbst hatte das Glück, einen Großvater zu erleben, der mit mir nicht mehr so ungeduldig war wie mit seinen eigenen Kindern. Aber natürlich ist dieser Name, diese Familie auch für mich eine lebenslange Last. Aber indem ich Thomas Mann heute als politischen Mahner sehe und nicht nur als literarisches Denkmal, wiegt diese Bürde nicht mehr so schwer.


Sie tragen also das politische Erbe Ihres Großvaters weiter.
Ja, das sehe ich so. Thomas Mann hat 1938 einen Essay mit dem Titel „Die Zukunft der Demokratie“ geschrieben. Und darum geht es auch heute.


Die Familie Mann ist mit so viel Großem verbunden, aber auch mit so viel Leid, Unglück und Tod.
Auch ich persönlich kann dieses Leid gut nachvollziehen, und es gab auch Lebensphasen, in denen ich gefährdet war. Aber ich sehe das Leben, auch wenn das banal klingt, als einen Tunnel, an dessen Ende hoffentlich Licht ist. Was mich betrifft: Ich habe den Tunnel verlassen. Aber im Rückblick kann ich sagen: Dort drinnen ist es schon sehr dunkel. Schauen Sie meinen Vater an, der war ja auch massiv geschädigt – aber nicht nur von diesem angeblich so bösen Thomas Mann, sondern auch von sich selbst. Davon, von dieser großen und tragischen Familiengeschichte, habe natürlich auch ich einiges abbekommen. Mein Leid bestand vor allem darin, dass meine eigenen Eltern wenig Interesse an mir hatten. Meine Großeltern waren der Ersatz.


Sie haben einmal gesagt, von Ihrem Vater hätten Sie sich gewünscht, dass er weniger aggressiv gewesen wäre, und von Ihrer Mutter, dass sie Sie mehr geliebt und weniger verwaltet hätte. Das klingt nach tiefen Wunden.
Das habe ich gesagt – und das stimmt auch so. Mein Vater war sehr aufbrausend und meine Mutter uninteressiert und kühl.


Ihr Großvater hat seine sechs Kinder in die geliebten und die ungeliebten eingeteilt. Empfinden Sie das nicht als ungeheuer brutale Selektion?
Ganz so einfach war es nicht. Aber Thomas Mann hat Gewichtungen vorgenommen, das ja. Klaus und Erika waren zum Beispiel sehr geliebt, Monika, Golo und mein Vater nicht. Trotzdem war Thomas Mann nicht das eiskalte Genie, das menschliche Ungeheuer, als das er oft von Biografen dargestellt wird. Er war auch ein sehr empfindsamer Mensch, der sich um seine Familie gekümmert hat und seinen Kindern vieles durchgehen ließ – vielleicht zu viel. Und auch der politische Denker und Schreiber Thomas Mann war ein humanistischer, aufgeklärter Menschenfreund.


Sie selbst haben Ihren Großvater als „Retter“ bezeichnet. Wovor hat er Sie gerettet?
Vor meiner Elternlosigkeit. Er gab mir ein Zuhause, und bevor Sie mich fragen: Ja, ich habe ihn geliebt. Aber auch ich musste mich später von ihm loslösen. Als junger Erwachsener nahm ich ihm übel, dass er mich als literarische Figur, die noch dazu vom Teufel geholt wurde, verwurschtet hat. Aber jetzt, im Alter, überwiegen wieder Liebe und Bewunderung für ihn.


Ihr persönlicher Lieblingsroman des Großvaters?
Die „Buddenbrooks“.