"Ein  russischer Roman“. Welchem Autor käme es in den Sinn, seinem Werk einen bestenfalls für eine Unterzeile tauglichen Titel zu geben? Und auch noch davon überzeugt zu sein, sich dafür kein Veto einzuhandeln, weder vom Lektor noch vom Verleger? Emmanuel Carrère schaffte dies problemlos, die Begründung dafür ist für Kenner seiner Bücher recht simpel. Der französische Sprachkünstler nimmt in der europäischen Gegenwartsliteratur einen absoluten Sonderstatus ein, weil er sich ebenso virtuos wie einzigartig allen Eingrenzungen entzieht.

Wahrheits-Jongleur

So ist auch dieser „russische Roman“ eine raffinierte Genre-Mixtur, eine soghafte Form der Puzzle-Poesie, am ehesten als Seins-Fiktion halbwegs passend einzuordnen. Zweckdienlich ist es da wohl, auf die enorme Vielseitigkeit des Künstlers zu verweisen. Er schüttelt famose Reisereportagen aus dem Ärmel, er schreibt Drehbücher, er ist Filmemacher, der in den Jurorenrunden der Filmfestspiele von Cannes und Venedig saß, und er ist ein mit allen literarischen Wassern gewaschener Erzähler, der mit List und Hinterlist die Grenzen zwischen Wirklichkeit und freier Erfindung aufhebt. Ein Wahrheits-Jongleur.
Autobiografisch ist sein in Frankreich bereits 2007 erschienener Roman angeblich. Geprägt vom Wunsch des Autors, Licht ins familiäre Dunkel zu bringen (sein Großvater galt im Zweiten Weltkrieg als Kollaborateur und verschwand 1944 spurlos). Aber zuerst einmal erhält der Erzähler den Auftrag, einen Dokumentarfilm über den Ungarn András Toma zu drehen, der – tatsächlich – 53 Jahre lang als Kriegsgefangener in einer psychiatrischen Anstalt in der russischen Provinzstadt Kotelnitsch interniert war und irgendwann „vergessen“ wurde.

Schwindelerregend

Die erste Mission scheitert, der zweite Versuch mündet, ohne allzu viel zu verraten, in eine „Höllenfahrt“. Grandios ist Carrères unnachahmliche Fähigkeit, diese Anfangsgeschichte in alle Richtungen mäandern zu lassen. Sei es eine fatale Beziehungsstory, sei es eine spannende Familienchronik, seien es abenteuerlichste und abstruse Reiseabenteuer, seien es die eingeschobenen Beteuerungen des Autors, stets zwischen Wahnsinn und Horror zu pendeln. Wohl dem, der lügt. Trickreich, sprachlich stets auf höchstem Niveau, mit großem Gespür für feinsinnige Ironie und sicherlich auch diebischer Freude daran, seiner Leserschaft unentwegt den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Schwebend leicht und doch versehen mit beträchtlicher Schwerkraft.
So trifft denn, ebenfalls im doppelten Sinn, zu, dass dieses furiose Werk sich durch eine Eigenheit besonders auszeichnet: Es ist schwindelerregend gut.

(Emmanuel Carrere: "Ein russischer Roman". Matthes & Seitz, 282 Seiten, 22,70 Euro).