Verlassen sind die Armen. Sie müssen nach vorne drängen, sie müssen allen Stolz vergessen, sie müssen sich ausweisen als Hungerleider, dass man ihnen den Kanten Brot und die Schüssel Erbsensuppe aufs Tablett stelle.

Es leben viele Arme in meiner Straße und in den Nachbarstraßen. Die Witwe im letzten Haus am Rondell, noch vor den verbeulten Metallpollern, spricht vom Verlust ihrer Anstelligkeit: Dies ist ein Wort aus ihrer Zeit als junge Frau. Sie meint, dass sie nicht mehr geschickt darin sei, das Nötigste zu erschnappen. Sie geht hungrig zu Bett. Wäre es nicht gut und gerecht, der Dame ihr Los zu erleichtern? Vor dem Discounter, in einigem Abstand zum Eingang, kauern die Obdachlosen. Sie schwitzen im Sommer und sie frieren im Winter, sie haben das Wort Sozialromantik noch nie gehört, ihr Leid ist echt. Keiner von ihnen käme auf den Ein- fall, ihre Gleichheit im Elend zu rühmen. Würde man nicht das Böse von sich tun, hielte man sie nicht länger für Parasiten?



Die sonderbare Russlanddeutsche, die im Kellerloch neben dem Altersheim haust, wird oft von Schülern mit Erdbrocken beworfen. Die bunt bedruckte Haarhülle knotet sie im Gehen am Nacken, den jungen Flegeln ist sie unheimlich. Sie putzt bei den Reichen: Sie hat noch kein Stuhlbein zerschrammt und keine einzige Vase zerschlagen. Wäre es von den Herren Spaziergängern zu viel verlangt, wenn sie sie freundlich grüßten?

Der alte Mann mit dem halben Gebiss geht die Bahnsteige nach Pfandflaschen ab, das bisschen Rente ist zur Monatsmitte aufgebraucht. Er nennt sich Überlebsel, ein lebendes Überbleibsel. In den Raucherzonen stehen die Kerle, die Bierbüchsen in vier Zügen leeren und sie in der Mitte mannhaft zerdrücken. Beim Anblick des alten Mannes erwacht in ihnen ein kranker Eifer, sie schlagen ihn mit ihrem Lärm in die Flucht. Ich lobe die Bürger, die zur Börse greifen und den Alten beschenken. Ist mein Hass auf die johlende Rotte eine ungesunde Regung?

Die Armen erben den Besitz. Die Rechten verstehen sich als unbewaffnete Bürgerwehr. Sie möchten die Plätze säubern von unverträglichen Elementen in ihrer Idylle. Sie schützen ihren Besitz. Sie ertragen es nicht, dass die Niederen durch ihr Viertel streifen. Die Zähne werden ihnen vom Fluchen stumpf – sie fluchen: Man muss sie herausschaffen, man muss sie aus unserer Welt schaffen, die Herumtreiber, das arbeitsscheue Pack, das Gesindel. Jeder ist vom Glück begünstigt, jeder verdient den Wohlstand, den er hat. Wer nichts leistet, gehört ausgejätet, er gehört ausgemerzt!

Wie oft hat man einen Obdachlosen zu Tode getreten und verbrannt? Wie lange sollen die Armen, die noch leben dürfen, die Demütigung erdulden und Demut zeigen? Wer den Armen sein Ohr verstopft, wer von lohnender Leistung schwätzt, hat kein Herz.

Die Armen erben das Land. Der Reiche, der die Bettlerschale übersieht, der Lästerworte redet wider die Armen, ist verroht und verstockt. Auch wenn die Reichen viel auf Manieren und Etikette geben, eine feine Seele haben sie nicht.

Verlassen sind die Frauen. Sie leben in der größten Lüge des Mannes, dass es seine Bestimmung sei, zu führen, zu lenken und zu herrschen. Im Krieg hat sie nicht von der Tugend zu weichen. In friedlichen Zeiten hat sie Zuversicht auszustrahlen.

Ich kenne Frauen, die, geschürzt und geknebelt, dem dummen Orientalen hinterherlaufen. Ich kenne Mädchen, die sich den dummen Brüdern unterordnen. Ich kenne Frauen, die, gestöckelt und frisiert, für den dummen Europäer die Empfangsdame spielen. Ich kenne begabte Töchter, die sich dem Mittelmaß ergeben. Sie tun es, weil man sie dazu drängt. Sie werden belogen und gebrochen, sie werden belästigt und geschändet.

Die Welt ist schlecht, weil die Männer nicht ohne Gewalt glauben leben zu können. Sie sind niederträchtig, weil sie die Schlechtigkeit im Fleisch der Frau vermuten. Ehre, Anstand, Vaterland, Moral: schmutzige Worte, des Mannes Machtbekundung , der wahre Dreck der Welt. Jede Tradition, die auf dem Vorrang des Mannes beharrt, ist verachtenswert.

Die neuen alten Patrioten erzählen die neuen alten Märchen. Sie sprechen: Die Frau ist eine Meisterin der Betörung. Deshalb schützen wir sie vor Übergriffen! Sie sprechen: Unsere Frauen haben sich befreit. Sie machen sich nackt vor uns, das ist der schönste Aspekt der Befreiung. Es geht dann doch zu weit, wenn sie uns mit den Waffen ihrer Geschlechtlichkeit bekämpfen. Eine Frau als Kameradin schreckt uns nicht. Eine Frau als Furie hat die Natur nicht vorgesehen!

Der Jammer des Reaktionärs über die dreiste Frau findet seinen Niederschlag in tausenden Seiten Literatur. Es jammern die Potentaten und die Generäle, es jammern die alten Säcke in den Schreibstuben und die Peniskrieger in den Ghettos. Es jammert der Jüngling über das andere Geschlecht, es jammert der ganze Kerl auf der Baustelle. Sollte man ihnen allen Tränentüchlein reichen? Sollte man sich abwenden ob der elenden Heuchelei?
Der romantische Mann, der gelobt werden will, weil er der Frau in den Mantel hilft; der aufgepumpte Rüpel, der den Benimm verrülpst; der wilde Mann, der in seinen Waldschratbart Locken dreht; der Bauer, dem in der Stadt die Verstädterung misslingt; der Städter, der nicht begreifen mag, dass seine Griffe und Kniffe untauglich geworden sind: Sie sind Barden einer falschen Bekümmerung. Insgeheim wünschen sie die Frau als folgsame Magd, als dienstbaren Geist.

An der Seite der Patrioten kämpfen auch Frauen. Wollen sie beweisen, dass ihnen die Männlichkeit doppelt so gut gelingt wie einem Mann? Glaubte man daran, würde man sie der Puppenhaftigkeit beschuldigen. Sie wissen, was sie tun.

Verlassen sind die Fremden. Sie müssen ertragen, dass man sie als Keimträger, als Wühler und Agenten, als unbrauchbaren Menschenmüll beschimpft. Die Rechten kennen keine Gnade, wenn es gilt, die Neuankömmlinge zu verfratzen. Sie rufen: Ihr gehört nicht zu uns, wir sind uns selbst genug, wir brauchen keine weitere Gesellschaft. Ihr seid hergeholt worden, um uns zu unterwandern. Fühlt euch hier bei uns nicht zuhause, wir lassen euch niemals in Frieden!

In was für eine Welt sind die Fremden hineingeraten? In eine Welt ohne Tyrannen und Despoten, in den Frieden haben sie sich gerettet. Sie stehen aber plötzlich im Spuckeregen der Verachtung.


Es hilft nichts, den Rechten edle Motive zu unterstellen, wie es mancher Feuilletonist tut. Es geht ihnen einzig und allein um die Fremdenabwehr, die Vaterländerei ist ihre Phrase der Stunde. Der Moslem, der Morgenländer, der Einwanderer, der Flüchtling : Sie sind in ihren Augen Geschöpfe dritten Ranges.

Der Rechte ist kein Systemkritiker, kein Abweichler und kein Dissident, er ist vor allem kein besorgter Bürger. Wer die Eigenen gegen die Anderen ausspielt und hetzt, ist rechts. Punkt. Wer für das Recht der Armen streitet, ist ein Menschenfreund. Punkt. Es gibt keinen redlichen rechten Intellektuellen. Es gibt keinen redlichen rechten Schriftsteller.

Mit wem reden? Die Patrioten können nur skandieren, als wären sie auf einer Kundgebung. In Deutschland, in Österreich, in der Schweiz haben sie sich in die Parlamente geblökt. Manch ein Schreiber oder Kulturredakteur, manch ein Bürgersohn mit einem reichen oder prominenten Vater, manch ein Philosoph und Jubeljahrbiograph sieht sich schon im Krieg als Frontberichterstatter. Sind sie erregt, weil sie über das Tamtam der unredlichen Empörer endlich von ihrer Langeweile wegkommen?

Ich sage: Sie sollten die Spielchen lassen, sie sollten auf solche Sensationen wenig geben. Der wahre Skandal ist das Geschwätz vom großen Erwachen. Dies Wort hat keinen Wert. In diesem Wort verbirgt sich die böse Lust, Menschen Entartung anzudichten.

Der Patriot ist ein wahnverstrickter Kleingeist mit einem auf- und niederwellenden Gemüt. Er ist ein Kraftprotz, der von einem Reich der Untertanen träumt. In diesem Traum herrschen Männer mit säuischer Natur. Aufgehoben wird dann sein das Erbarmen, aufgehoben der gute Friede, aufgehoben das Recht des Armen auf Salz und Brot.

Die Ruhmesschlacht, von der die neuen alten Rechten träumen, bekommen sie nicht. Wir sind aus der Schrift geboren. Wir schreiben unsere kühnen, kühlen und wilden Geschichten. Wir lieben die leise Art und den lauten Hall. Niemals aber schreiben wir den Verzweifelten eine Abart zu. Diese Unterscheidung lässt sich nicht verwischen.


Der feste Halt ist nicht das Volk, nicht die Sippschaft, nicht eine heilige Erde und nicht eine versunkene Welt. Ich finde festen Halt im Recht, dem Ausdruck des Gewissens. Daran glaube ich, davon rücke ich nicht ab. Auf den Glanz der Geschichte einer Nation gebe ich nichts. Es soll ein Menschengesicht glänzen.

Klagenfurt ist ein Ort der vielen Geschichten. Es ist ein Ort der Beseelung. Wir schreiben, wir lesen, wir kämpfen. Wir stehen bei den Verlassenen.