Ist uns nach den Jahren, in denen wir im Homeoffice in Jogginghosen saßen, die Eleganz verloren gegangen?
Barbara Vinken: Ich fürchte, ja. In der Zeit der Pandemie ist uns der öffentliche Raum abhandengekommen. Den sollten wir uns jetzt wieder zurückerobern. Und in diesem Zusammenhang geht es auch um die Kunst, sich angemessen zu verhalten und angemessen zu kleiden.

Haben Sie den Eindruck, dass die Menschen schlampiger geworden sind?
Schlampig zu sein, finde ich eigentlich ganz lustig. Aber manchmal habe ich den Eindruck, dass sich einige Menschen im Kampfmodus befinden und nur auf ihr eigenes Fortkommen achten. Es geht denen allein darum, dass sie am besten über die Runden kommen und nicht mehr auf den anderen achten. Diese Menschen, junge wie alte, führen sich auf, als wären sie im Dschungel.

Kulturwissenschaftlerin Barbara Vinken
Kulturwissenschaftlerin Barbara Vinken © KK

Welche Rolle spielt diesbezüglich die Kleidung?
Der dominierende Stil heißt jetzt "Normcore", das ist unauffällige Unisex-Mode, die vor allem eines ist: langweilig. Normcore soll ermöglichen, sich im öffentlichen Raum unauffällig zu bewegen. Man sieht aus wie alle anderen und zieht sich praktisch an, um durch den Dschungel der Stadt unbehelligt ans Ziel zu kommen.

Ist der Begriff Eleganz nicht altmodisch, angestaubt? Ein Begriff aus der Mottenkiste?
Nein, Mottenkiste finde ich auf gar keinen Fall. Altmodisch finde ich schon richtiger, denn wer keine Vergangenheit hat, der hat ja auch keine Zukunft. Man kann nicht immer nur zu neuen Ufern aufbrechen. Insofern hat der Begriff altmodisch etwas sehr Gutes an sich.

In den Naturwissenschaften spricht man von einer eleganten Formel, wenn sie einfach ist: Hat Eleganz stets mit Schlichtheit zu tun?
Ja, Eleganz ist zwar eine hohe Kunst, aber das muss sie verbergen. Eleganz muss immer nachlässig, einfach, unangestrengt daherkommen. Es ist das Gegenteil von aufgetakelt. Wer elegant lebt, stürzt sich nicht auf das Erstbeste, das "Bling Bling", das sofort ins Auge fällt. Weil man an dem Auserlesenen hängt und weil es nicht beliebig ersetzbar ist oder dauernd entsorgt werden kann, schließt Eleganz auch die Nachhaltigkeit ein. Nachhaltig ist übrigens ein sehr elegantes Wort.

Was sind die Zutaten für Eleganz?
Es kommt gar nicht so auf das Was an, es geht eher um das Wie. Dass man sich auf das Gegenüber einstellt und auf die Situation. Achtsamkeit ist dabei ganz wichtig, wie auch Anerkennung und Wertschätzung des anderen. Eleganz ist auch ein Zeichen von Lebenskunst, ein Savoir-faire, ein Savoir-vivre.

In Ihrem Buch schreiben Sie, Eleganz ist auch eine Frage der Moral. Warum ist das so?
Moral hat immer auch mit Form zu tun, die ist nicht nur ein seelischer Wert, der formlos herumwabert. Und die Form der Moral ist die Eleganz.
Ist Eleganz zwangsläufig auch das Gegenteil von Maßlosigkeit?
Ja, Angemessenheit und Maß halten – das ist wesentlich. Die Form bewahren. Maßlosigkeit ist ja auch ein Verlust der Form.

Wann wirkt Zerschlissenes elegant?
Zerschlissenheit ist eine Urform der Eleganz. Frühe Dandys haben ihre Anzüge mit Glassplittern so aufgeraut, dass der Stoff fast wolkenartig war. Die englische Aristokratie war bekannt dafür, ihre Kleidung von anderen eintragen zu lassen, damit sie nur ja nicht neu aussah.
Sind Leggings oder Jogginghosen der Anfang vom Ende der Eleganz?
Auch hier geht es um das Wie. Audrey Hepburn in Leggings sah sehr gut aus. Das ist ja auch bei Birkenstock-Schuhen so, die ich nicht so gern mag. Es kommt auch hier drauf an, wie man sie trägt. Es kommt immer auf die Allüre, auf die Haltung, an.

Es gibt Menschen, die elegant aussehen, selbst wenn sie sich ein Geschirrtuch auf den Kopf legen. Was machen die richtig?
Wichtig ist, dass man sich eine weiche, schnelle Geschmeidigkeit bewahrt. Ohne Zurückhaltung und ohne Innehalten wird es Eleganz nicht geben. Das wird auch im Miteinander klar. Sich für andere interessieren, sich dem andern zuwenden, lächeln und freundlich sein: All das hat mit Eleganz zu tun.