Familien können schwierig sein. Das unterstreicht der heurige Berlinale-Wettbewerb vor der Preisverleihung am Samstag. Es wimmelt vor Familiendramen – von traurig bis bitterböse. Leider wird nicht aus jedem Drama ein guter Film. Estibaliz Urresola Solaguren erzählt in "20.000 especies de abejas" sensibel von einem Kind im Volksschulalter, das mit dem ihm zugeschriebenen Geschlecht in Konflikt kommt – ein hochaktuelles Thema. Die Mutter will das Kind schützen, doch nur ihre Tante findet über die Imkerei eine Verbindung. Ein Film, der dem spanischen Gewinner des Vorjahres, "Alcarràs", in vielem ähnlich ist, vielleicht trotzdem Bären-Chancen hat.
Emotional ist auch der mexikanische Beitrag "Tótem" von Lila Avilés. Darin feiert eine Familie um die siebenjährige Sol den Geburtstag des Vaters. Das Fest ist auch eine berührende Abschiedsfeier für den todkranken Mann. Beide Filme arbeiten wundervoll mit ihren Kinderdarstellenden, scheuen sich jedoch vor dem dramaturgischen Fokus ihrer Geschichten.
Klare Favoriten unter den 19 Kandidaten haben sich bis kurz vor Ende keine herauskristallisiert. Das kanadische Biopic "BlackBerry" von Matt Johnson über Aufstieg und Fall der gleichnamigen Handy-Firma ist handwerklich meisterlich erzählt, dürfte einer politisch und formal ambitionierten Festivaljury vielleicht zu geradlinig sein. Ebenso das bereits in Sundance gefeierte Liebesdrama "Past Lives" von Celine Song. Der zweite US-Beitrag, "Manodrome" von John Trengove, erfüllt seine eigenen Versprechen nicht.
Drei deutsche Beiträge stießen auf angenehme Reaktionen. Emily Atefs tragische Romanze "Irgendwann werden wir uns alles erzählen" behauptet emotionale Intensität und löst einiges ein. Margarethe von Trottas "Bachmann" mit Vicky Krieps als Dichterin ist mehr als Literaturgeschichte. Und Christian Petzold findet im Drama "Roter Himmel" feurige Metaphern für seine Geschichte, mit dem Wiener Thomas Schubert in der Hauptrolle. Außenseiter-Chancen auf einen der Bären dürfte Giacomo Abbruzzeses formal ambitionierter Debütfilm "Disco Boy" mit Franz Rogowski haben. Zwei Animationsfilme und ein weiterer deutscher Film schließen den Wettbewerb heute ab.
Festivaldirektor Carlo Chatrian hat seiner Jurypräsidentin Kristen Stewart eine ziemliche Aufgabe aufgebürdet. Insgesamt 2129 Filmminuten wird die Jury bis zur Bärenverleihung am Samstag gesichtet haben. Österreich ist über die Beteiligung am "Bachmann"-Film dabei.
Weitere Austrofilme liefen im Panorama: Die Doku "Stams" startet nächste Woche bereits im Kino, "Das Tier im Dschungel" wird im März die Diagonale eröffnen. In der Sektion Forum wurden noch die anspruchsvollen Filme "De Facto" und "Anqa" gezeigt.
Fazit: Die 73. Berlinale glänzte weniger durch Filmauswahl und Gäste denn durch ihr politisches Engagement. Das ist ehrenwert. Am heutigen Jahrestag der russischen Invasion ist dazu noch einmal eine gute Gelegenheit. Doch das allein ist für das drittgrößte europäische Festival zu wenig.