Heuer wird es wieder brummen auf der Frankfurter Buchmesse, die am 19. Oktober ihre Pforten fürs Publikum öffnet. Keine Coronaeinschränkungen, dafür 4000 Aussteller aus 95 Ländern, aus Österreich sind 70 Verlage vertreten. Das Gastland ist Spanien, und zur Eröffnung der Messe am 18. Oktober bringen König Felipe VI. und Königin Letizia von Spanien royalen Glanz nach Frankfurt. Einige Glanzstücke des Bücherherbstes haben wir auf sechs Seiten für Sie ausgewählt. Das ist natürlich nur ein winziger Ausschnitt aus einem riesigen Angebot, aber wir hoffen, dass Sie mit unseren Empfehlungen angenehme, spannende, berührende, fordernde, nachdenkliche Lesestunden verbringen.

Sein Herz so weit

Mit "Tomás Nevinson" hat der unlängst verstorbene spanische Autor Javier Marías einen gewaltigen Schlussstein unter sein faszinierendes Werk gesetzt. Am Anfang steht bei diesem Autor oft das Ende. Der Tod, der Mord, der Suizid. Auch diesmal. "Ich wurde nach alter Schule erzogen und hätte nie gedacht, dass man mir eines Tages auftragen würde, eine Frau umzubringen." Mit diesem Satz beginnt "Tomás Nevinson", der aktuelle Roman des spanischen Autors Javier Marías – und durch dessen überraschenden (Corona-)Tod am 11. September dieses Jahres auch sein literarisches Vermächtnis.

Der Roman ist gleichsam der zweite Strang einer Doppelhelix: Der erste Strang, der Vorgängerroman, trug den Titel "Berta Isla". Sie, Berta, die Frau von Tomás, erzählte darin die Geschichte aus ihrer Perspektive. Vom Kennenlernen in Madrid, dieser Liebe auf den ersten Blick, die letzten Endes von Zweifeln, Geheimnissen und Verrat perforiert werden sollte. Und jetzt ist also er am Wort, Tomás, der Spion wider Willen, der von seinem dämonischen Auftraggeber Bertram Tupra wieder zu einem Einsatz genötigt wird. Diesmal soll Tomás Nevinson, getarnt als Lehrer, in ein nordspanisches Provinzkaff fahren und dort unter drei bürgerlich lebenden Frauen eine gefährliche Terroristin ausfindig machen – und außer Gefecht setzen.

16 Romane hat Javier Marías hinterlassen, grob kann man sie in Beziehungsromane und Agententhriller einordnen. Einem breiten Publikum bekannt wurde er durch die Romane "Mein Herz so weiß" (1992) und "Morgen in der Schlacht denk an mich" – beide Titel sind übrigens auf ein Shakespeare-Zitat zurückzuführen. Allein diese beiden Bücher erzielten eine weltweite Gesamtauflage von mehr als sechs Millionen verkauften Exemplaren. Doch Marías, das sollten spätere Werke zeigen, eignete sich auf Dauer nicht für das schnelle Bestseller-Geschäft. Zu wenig geschmeidig und stringent waren seine Bücher, zu mäandernd, komplex und wohl auch verkopft für das breite Publikum. Man muss Geduld haben, wenn man in den weiten Marías-Kosmos eintaucht und sich darin verliert – und diese Tugend ist im Schwinden begriffen.

Denn ob Beziehungsroman oder Agententhriller, beides war für Javier Marías stets nur ein Rahmen, den er meist gleich nach den ersten Sätzen lustvoll sprengte. Ähnlich wie sein großes Vorbild Laurence Sterne und dessen Tristram Shandy ist auch Marías ein Pagagnini der Abschweifung. Ein erster Satz wie ein Peitschenschlag, gefolgt von orgiastisch zelebrierten Exkursen über Geschichte, Politik, Moral, Literatur, Sozialwesen, Philosophie, Archäologie – daran erkennt man die faszinierende, fordernde und berauschende Handschrift dieses unvergleichlichen Autors.

Mit "Tomás Nevinson" hat Javier Marías einen wuchtigen, passgenauen Schlussstein unter sein Schaffen gesetzt. Und möglicherweise hat er sein eigenes Ende geahnt, denn das Ende des Romans trägt eine Spur Versöhnlichkeit in sich. Nevinson lehnt sich gegen das Böse auf und sucht einen Weg in die Freiheit. Gemeinsam mit Berta Isla. Bernd Melichar

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Javier Marías. Tomás Nevinson. S. Fischer, 733 Seiten, 32,90 Euro.


Lebensende: Am 31. Juli

"Ich mag das Leben nicht. Selbst wenn es so schön ist, wie Sänger und Dichter immer behaupten, ich mag es nicht." Deshalb ist Toni, ein 54 Jahre alter Professor für Philosophie, fest entschlossen, sein Leben zu beenden. In genau einem Jahr, am 31. Juli, einem Mittwoch.

So beginnt "Die Mauersegler", der neue Roman des baskischen Autors Fernando Aramburu, der mit "Patria" (2017), seinem Epos über den baskischen Unabhängigkeitskampf, für begeisterte Kritiken sorgte. Obwohl er diesmal einen völlig anderen Stoff in Händen hält, bleibt Aramburus Grundton gleich – eine Mischung aus Humor, Anteilnahme, Intelligenz und großer erzählerischer Gewandtheit.

"Die Mauersegler" ist kein morbider Abgesang an das Leben, vielmehr erobert sich dieser raunzige Nörgler in der Rückschau die Lust daran zurück, auch wenn ihm das Leben bisher nur halbwegs gelungen ist: Frau weg, Sohn missraten, geblieben sind ihm sein Freund Humpel, sein Hund und eine Plastikpuppe. Eine warmherzige Satire, eine gefinkelte Systemkritik. Ja, am Ende stirbt jemand. Wer, wird hier nicht verraten. BM

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Fernando Aramburu. Die Mauersegler. Rowohlt, 630 Seiten, 28,80 Euro.


Warten zwischen Wunsch und Wahn

"Es kann sich eine große Katastrophe ereignet haben, und ihr Widerhall oder ihre Druckwelle kommt erst viel später an." Vielleicht ist dieser Satz, ganz am Ende von Antonio Muñoz Molinas Roman "Tage ohne Cecilia", eine Spur in diesem Vexierspiel aus Sein und Schein, Wunsch und Wahn.

Der große, vielfach ausgezeichnete spanische Autor, der auch eine Festrede auf der Frankfurter Buchmesse halten wird, lässt in Lissabon einen Mann auf dessen Frau Cecilia warten. Er richtet die Wohnung her, verliert sich in Erinnerungen, 9/11 spielt eine Rolle, und Cecilia kommt nicht. Ein spannendes, beklemmendes Kammerspiel entspinnt sich.

Daraus entsteht ein Roman, der viel über uns Menschen verrät und was wir tun, um einer Realität zu entkommen, die uns überfordert. Gibt es Cecilia überhaupt – oder noch? Ein Meisterwerk über die Macht und Ohnmacht der Erinnerung. BM

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Antonio Muñoz Molina. Tage ohne Cecilia. Penguin, 267 Seiten,
25,70 Euro.


Ein mahnendes Vermächtnis

Der Bürgerkrieg in den 1930er- und 1940er-Jahren und die Franco-Diktatur sind Traumata, an denen sich die spanische Literatur bis heute abarbeitet. Auch der letzte Roman von Almudena Grandes, im Vorjahr im Alter von nur 61 Jahren verstorben, dringt tief in diese dunkle, schmerzhafte Zeit ein.

"Die drei Hochzeiten von Manolita" ist ein großer Familien- und Epochenroman, zentrale Figur die zu Beginn der Handlung 18-jährige Manolita, die durch ihren Bruder unfreiwillig in den kommunistischen Widerstandskampf verwickelt wird. Der Roman ist das sprach- und inhaltsgewaltige, aber auch mahnende Vermächtnis einer der bedeutendsten Schriftstellerinnen Spaniens.

Es geht um Krieg, Krisen, Mut, Treue, Verrat und – letztendlich – auch um rettende Liebe. Grandes Botschaft: Nur wenn man sich der Krankheit (eines Landes, einer Gesellschaft) stellt, ist Gesundung möglich. BM

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Almudena Grandes. Die drei Hochzeiten von Manolita.
Hanser, 672 Seiten, 30,90 Euro.

Feminismus, gerappt

Was über Frauen geredet wird, kümmert die Frauen im Roman gar nicht so sehr. Mieze Medusa, mit bürgerlichem Namen Doris Mitterbacher, lässt in dem gleichlautenden Buch die unterschiedlichsten weiblichen Lebensentwürfe aufeinandertreffen. Die Hauptprotagonistinnen trennen rund 20 Lebensjahre und ihre Wohnorte im Westen und Osten Österreichs. Ihre Geschichten werden parallel erzählt, eine Begegnung findet erst gegen Ende des handlungsreichen Plots statt.

Da ist die 20-jährige Tirolerin Laura, die gerne Comics zeichnet, in Innsbruck lebt, aber Skifahren nicht mag: "Wenn in Tirol jemand eine Idee hat, wird meistens der Betonmischer angeworfen: eine Autobahn, eine Lawinenverbauung, eine Seilbahn, ein Wasserkraftwerk mitten in ein unberührtes Flussbett, um damit eine einzelne Schneekanone zu betreiben, ein Hotel, such's dir aus." Fred, ungefähr 40 plus, lebt in Wien, mal hier mal da, reist ab und zu nach Venedig, fährt ein klappriges Auto und hat irgendeinen "Halbtagsjob, der nicht der Rede wert ist".

Beide Frauen gehen ihren Weg abseits gängiger Rollenklischees, sehen die Welt auf ihre Weise, und das bedeutet: wach gegenüber patriarchalen Strukturen. "Es gibt in Österreich mehr Bürgermeister, die Franz heißen, als Bürgermeisterinnen." Wie nebenbei erinnert die Autorin daran, dass Frauen in Österreich erst seit 1975 ihren Mann nicht mehr um Erlaubnis bitten mussten, wenn sie arbeiten wollten, spricht von Altersarmut und hohen Wohnkosten.

Mieze Medusa, bekannt auch als Poetry-Slammerin, erzählt in ihrem (nach "Du bist dran") vierten Roman wieder leichthändig und mit Witz, genauer Beobachtungsgabe und Sympathie für ihre Figuren.
Prosa mischt sich mit Hip-Hop, und so gibt's als "Bonus-Track" einen Raptext (mit Kärnten-Bezügen von Bachmann bis Lavant) von Freds Freundin Milla: "Jede von uns ist besonders, und ganz besonders wichtig ist, dass wir uns nicht gegeneinander ausspielen lassen, dass wir merken, wenn jemand uns sein Lob wie ein Lasso um den Hals hängen will, um uns von der Herde wegzuziehen." Den Roman könnte man also auch von hinten zu lesen beginnen. Dann hat man gleich den passenden Soundtrack dazu im Ohr. Karin Waldner-Petutschnig

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Mieze Medusa. Was über Frauen geredet wird.
Residenz-Verlag, 256 Seiten, 25 Euro.

Eine Familie wie die Mafia

Man kennt so Geschichten wie Claudia Schumachers "Liebe ist gewaltig" auch aus den heimischen Medien: Hinter den Mauern der Villa einer gutbürgerlichen Familie herrscht pure Gewalt. Juli ist die kluge Tochter unter den vier Kindern des Anwaltsehepaares.

Ein Mathematikgenie, das auf Computerspiele steht, gedrillt auf Leistung, ob in der Schule oder beim Eiskunstlauf. Versagt sie, wird sie vom Vater verprügelt, gedemütigt, die Mutter sieht zu – und weg. Bis sich Juli helfen lässt, dauert es Jahrzehnte: "Aus dem guten Elternhaus spazierst du raus, sobald du volljährig bist, und machst, was du willst. Aber die schlechte Familie, ausgerechnet die, lässt dich nicht los.

Jeder hat gegen jeden was in der Hand. Verstrickungen, Erstickungen: Es ist wie Mafia." Sie durchlebt Zusammenbrüche, Liebesdesaster, entfremdet sich von ihren Geschwistern, fühlt sich schuldig. Man liebt sie sofort, diese geknechtete Seele, die die Autorin sprachgewaltig und psychologisch klug zeichnet – spätestens ab den Szenen, in denen Juli ein Mäusebaby aufpäppelt (das ihr Vater später brutal freisetzt). KW

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Claudia Schumacher. Liebe ist gewaltig. DTV, 374 Seiten, 22,70 Euro.


Die Facetten der Liebe

Es sind zehn berührende, melancholische, teils fantastische und immer sprachlich fein geschliffene Erzählungen, die die US-Amerikanerin Lily King in ihrem Band "Hotel Seattle" als lose Kette menschlicher Erfahrungen aneinanderreiht.

Von der jungen Babysitterin, deren Eltern sich getrennt haben, bis zur an sich selbst zweifelnden Schriftstellerin reichen die einfühlsamen Geschichten. Es geht darin um das Weiterleben nach Trennungen und Todesfällen, ums Aufdecken von Lebenslügen und die oft schwierigen, aber immer liebevollen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern.

Lily King veröffentlichte 2015 mit dem Roman "Euphoria" – eine Dreiecksgeschichte, inspiriert vom Leben der Ethnologin Margaret Mead – einen Bestseller. Auch in der kleineren Form der "Short Storys" findet man die Autorin als psychologisch versierte Beobachterin und bildmächtige Geschichtenerzählerin. KW

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Lily King. Hotel Seattle. C. H. Beck, 254 Seiten, 24,70 Euro.


Frauen, die sich das Wort nicht verbieten lassen

Erstmals bereits 2001 erschienen ist Ursula Krechels Erzählung "Der Übergriff", leider aktuell wie eh und je. Nichts scheint sich in 20 Jahren geändert zu haben an männlichen Übergriffen und weiblichem Widerstand, an Frauen, denen es die Sprache verschlägt, und Männern, die ihnen wie selbstverständlich über den Mund fahren.

Assoziativ, sprunghaft und lakonisch erzählt die deutsche Autorin viele Geschichten, die Handlung erschließt sich erst nach und nach. Manchmal poetisch, manchmal nüchtern und mit leiser Ironie analysiert Krechel dabei die patriarchale Gesellschaft anhand der Geschichte einer traumatisierten Ich-Erzählerin. Lesenswert: das Nachwort von Antje Rávik Strubel, die Krechels Hellsichtigkeit und lyrische Sprache hervorstreicht. KW

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Ursula Krechel. Der Übergriff. Jung und Jung,
192 Seiten, 21 Euro.

Ein Gipfeltreffen zweier Ermittler

Die Zahlen sind beachtlich: 4,7 Millionen verkaufte Bücher und Hörbücher, insgesamt 110 Wochen lang auf der Spiegel-Bestsellerliste sowie Übersetzungen in zehn Sprachen (darunter Japanisch und Koreanisch): Der gebürtige Wiener Andreas Gruber hat sich vor allem mit seiner Reihe rund um den niederländischen Profiler Maarten S. Sneijder längst in die Herzen der Fans geschrieben. Vor vier Wochen ist Fall Nr. 7 unter dem Titel "Todesrache" erschienen, auf Amazon gibt es bereits über 2100 Bewertungen, 82 Prozent davon mit fünf Sternen.

Diese Begeisterung liegt unter anderem an der geschickten Figurenzeichnung: Maarten S. Sneijder, der für das Bundeskriminalamt Wiesbaden arbeitet, ist ein harter Hund, der seine Kopfschmerzen gerne mit Marihuana bekämpft und auf eine erstaunliche Aufklärungsquote verweisen kann. Bei seinem letzten Einsatz ist er nur knapp dem Tod entronnen und hat fast sein ganzes Team verloren. Der neue Thriller beginnt dann auch entsprechend adrenalingeladen: Es gibt Hinweise, dass zumindest seine Kollegin Sabine Nemez noch am Leben sein könnte.

Im Laufe der Ermittlungen lässt Andreas Gruber dann erstmals Sneijder auf den Helden einer weiteren Krimireihe aus seiner Feder treffen: Walter Pulanski, asthmakranker Ermittler im Leipziger Kriminaldauerdienst, wird aus ganz privaten Gründen in den Fall hineingezogen. Als routinierter Leser von Gruber-Thrillern ist es keine Überraschung, dass sich der griesgrämige Zyniker Pulanski und der geniale Misanthrop Sneijder erst einmal so überhaupt nicht leiden können.

Der spannende Fall rund um Entführung, Erpressung, Cyberkriminalität und Hackerangriffe steigert sich zu einem temporeichen Finale. Perfekte Literatur für lange Abende. Aber wer süffig geschriebene und gut gebaute Thriller mag, kommt an Andreas Gruber ohnehin schon lange nicht mehr vorbei. Marianne Fischer

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Andreas Gruber. Todesrache. Goldmann, 592 Seiten, 12.40 Euro.


Teufel aber auch

Péter Nádas, Ungarns literarische Lichtgestalt, gestern 80 Jahre alt geworden, lässt in "Schauergeschichten" eine Schimpforgie auf seine marode Heimat vom Stapel, die sich gewaschen hat. Ein sauguter Roman.

Ein Kaff irgendwo in der tiefen ungarischen Provinz, am Ufer der Donau gelegen, zeitlich verankert um das Jahr 1960 herum. Die Dorfbewohner haben jegliche Hoffnung auf ein halbwegs sinnvolles Leben weit hinter sich gelassen oder im Fluss versenkt. Jedes halbwegs fruchtbare Stück Boden kassierte der Staat, ihnen blieb unbrauchbares Gelände, fast so hart wie Beton.

Runde 200 Seiten lang gewährt Péter Nádas, einer der bedeutsamsten europäischen Dichter der Gegenwart, erst einmal etlichen seiner markant und mit Empathie gezeichneten Figuren Gelegenheit, Dampf abzulassen. Ein obszöner, bösartiger, kaum zu zähmender Sprach- und Bewusstseinsstrom ist die Konsequenz. Es sind trotzdem nur einige Stimmen aus dem Chor der Unterdrückten, die auf den realen Sozialismus unter Janos Kadar pfiffen, um ein gerade vornehmes Wort zu verwenden, und die dies heute unter Herrn Orban wieder tun.

Da spannt Péter Nádas einen unsichtbaren, aber klaren Bogen, der auch den zweiten Teil des Buches prägt. Wobei Nádas auf einzelne Kapitel verzichtet, alle Ereignisse, die rasant haarsträubender werden, fließen ineinander. Der politische Horror samt den realen Dämonen, die im fernen Budapest sitzen – sie sind in diesen "Schauergeschichten" von Beginn an präsent, verantwortlich für all die seelischen Flurschäden, die beim Nachbarn oder der Nachbarin beginnen und in grimmige Schuldzuweisungen münden. Sie richten sich auch gegen Rumänen, gegen die Donauschwaben, gegen die mächtige Kirche mit ihren Teufelsaustreibungen und, hier betritt Nádas brisantes Terrain, gegen die Juden.

Es ist ein imposantes und hochaktuelles Werk, das Péter Nádas in großer sprachlicher Vielschichtigkeit vom Stapel ließ, vielleicht zumindest in Gedanken donauaufwärts. Dieser grandiose Autor hat die Literatur erneut um einige faszinierende Randfiguren bereichert; wer tatsächlich auf eine gespenstische Geschichte hofft, kommt im Finale auf seine Kosten. Aber, verdammt, der Roman besitzt ganz andere Qualitäten. Werner Krause

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Péter Nádas. Schauergeschichten. Rowohlt, 576 Seiten, 30,90 Euro.


Ein Trauma ohne Ende

26. Februar 1986, spätabends. Ein Datum, das in Schweden ein Trauma auslöste, das bis heute immer wieder literarisch aufbereitet wird. Denn an diesem Abend wurde in Stockholm der Premierminister Olof Palme nach einem Kinobesuch erschossen.

Der Fall ist bis zum heutigen Tag nicht wirklich geklärt. Christoffer Carlsson, Senkrechtstarter in der skandinavischen Krimiszene, verknüpft das Attentat mit einem Mordfall, der fast gleichzeitig in der Region Halland entdeckt wird. Bald danach folgen zwei weitere Morde, angeblich gelöst werden sie rund 30 Jahre später. Vom Sohn des ursprünglichen Ermittlers.
Ein Schriftsteller, von Schreibhemmungen geplagt, kennt die Schauplätze, er kennt einige Bewohner aus dem Umfeld der blutigen Schauplätze.

Er versucht, die Fälle noch einmal zu rekonstruieren, und stößt dabei auf immer mehr Ungereimtheiten. Aber Vorsicht! Denn das sind nur einige Eckdaten zu einem auch sprachlich auf höchster Ebene stehenden Kriminalroman, der, völlig frei von Action oder Cliffhangern, unentwegt in Sackgassen oder in trügerisches Licht führt. WK

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Christoffer Carlsson. Was ans Licht kommt. Rowohlt,
492 Seiten, 23,70 Euro.


Nicht immer nur der Nase nach

Die Sprache von Yoko Ogawa kann zart und schillernd wie japanische Seide sein. Mit wunderbarer Hand greift sie unterschiedlichste Erzählfäden auf, die anscheinend rein gar nichts miteinander zu tun haben. Aber diese Seide kann sich auch in Stricke verwandeln, mit beklemmenden und grausamen Konsequenzen.

Diese führte die japanische Autorin mit ihrem Roman "Insel der verlorenen Erinnerung" vor Augen. Das für den Booker-Prize nominierte Werk wurde erst reichlich spät übersetzt, das gilt auch für "Der Duft von Eis", im Original bereits 1998 veröffentlicht.

Aber eigentlich tut dies nichts zur Sache, denn Yoko Ogawa hebt die Zeit und die Realität ebenso mühelos wie raffiniert aus den Angeln. Am Beginn steht eine Liebesgeschichte zwischen der jungen Ryoko und dem begnadeten Parfümeur Hiroyuki. Eigens für seine Geliebte komponiert er ein Parfüm, dem er den Namen "Quell der Erinnerung" gibt. Einen Tag später nimmt er sich mit einer der darin enthaltenen Essenzen – Ethanol – das Leben, nämlich in enorm hoher Dosierung.

Nicht nur der Suizid gibt Ryoko Rätsel auf. Denn bei ihren Nachforschungen stellt sie fest, dass Hiroyuki mehrere ihr verschwiegene Leben führte. Eines davon in Prag, als junger, hochbegabter Eiskunstläufer, ein anderes als genialer Mathematiker. Nun kennt Yoko Ogawa die Formel für das Wechselspiel von Sein und Schein sehr genau, die Spurensuche ihrer Protagonistin führt nach Prag und in mystische, fantastische Regionen, und keineswegs nur nebenbei führt sie auch ihre Leserschaft mehrmals auf das Glatteis. Ein Glanzstück hoher und souveräner Erzählkunst. WK

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Yoko Ogawa. Der Duft von Eis. Liebeskind, 264 Seiten, 24,60 Euro.


Wer nach Trost sucht, muss lange warten

Sein poetischer Roman "Offene See" wurde vor zwei Jahren zum "Lieblingsbuch der Unabhängigen" gekürt, aber Benjamin Myers kann weitaus härtere Töne anschlagen, wobei ihm auch der schwarze Humor keineswegs fremd ist.

Dies belegt der Brite jetzt mit einer Sammlung von Erzählungen, die den trügerischen Titel "Der längste, strahlendste Tag" tragen. Zu Auftrittsehren kommen, mit einer Ausnahme, Männer, die mehrheitlich zum gesellschaftlichen Strandgut zählen, an den Rand gedrängt wurden oder als Farmer ihre harten Kämpfe mit der Natur austragen.

Einsamkeit ist ein Leitmotiv der Storys, Zerbrechlichkeit ein anderes. "Male Tears", also "männliche Tränen", lautet der Originaltitel, wobei es sich zuweilen, etwa bei der Geschichte um einen brutalen Boxer, durchaus auch um Krokodilstränen handeln kann. WK

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Benjamin Myers. Der längste, strahlendste Tag.
DuMont, 267 Seiten, 23,70 Euro.