Die verdrängten und verschwiegenen Geschichten interessieren sie, „die Leichen im Keller“, sagt herbst-Intendantin Ekaterina Degot. In ihrem Anspruch, zeithistorische Ereignisse aus gut wattierten Gedächtnisvitrinen zu kippen und gängige Narrative noch gründlich auf Sachlage und Denkmuster abzuklopfen, zeigt sich mittlerweile eine Art roter Faden ihrer Intendanz. Das herbst-Thema 2022, „Ein Krieg in der Ferne“, wurde allerdings von den Ereignissen überholt. An sich wollte Degot die vergessenen und ausgeblendeten Kriege der sogenannten „Nachkriegszeit“ neu ausleuchten: Kalter Krieg, Vietnam-, Libanon-, Jugoslawien-, Tschetschenienkrieg etc. Vor dem Hintergrund der russischen Aggression in der Ukraine hat dieses Unterfangen nun neue, drängende Relevanz.

Schon nächste Woche, am 22. September, beginnt der steirische herbst. Als Herzstück des Festivals wurde am Dienstag die Großausstellung „Ein Krieg in weiter Ferne“ in der Neuen Galerie am Joanneum präsentiert. Die in Kooperation mit dem Museum gestaltete Schau will in der Gegenüberstellung brandaktueller und historischer Kunstwerke, im Dialog von Auftragswerken und Sammlung von Kriegen und Konflikten erzählen. Dafür öffnet sich erstmals seit dem Umbau 2010 das historische Prachtportal in der Neutorgasse wieder als Eintrittstor in die Kunst.

Zuvor aber wird die herbst-Eröffnung auf dem Grazer Hauptplatz begangen: Auf Degots Eröffnungsrede folgt ein Umzug vors Museum, mit Blaskapelle und überlebensgroßen Puppen, von Raed Yassin als Memento des libanesischen Bürgerkriegs gestaltet. Auch die Ausstellung selbst wird Schauplatz von Performances, dabei fällt auf: Sowohl das Vermittlungsprogramm (mit gratis Kunst-Bustouren für Schulklassen, Pubquizzes in der Herbstbar Mild, „Eat & Greet“-Events mit Künstlern) als auch das Performanceangebot wurden ausgeweitet – gut für den Festivalcharakter.

So zeigt Choreograf Boris Charmatz, zuletzt 2014 beim herbst zu Gast, die Dauerperformance „Noli me tangere“ in der Herz-Jesu-Kirche. Boris Nikitin geht in seinem Solo „Magda Toffler: Versuch über das Schweigen“ der Frage nach, warum seine Großmutter, die den Holocaust knapp überlebte, zeit ihres Lebens nicht davon erzählen konnte. In „A Safe Space for Male Bodies“ befasst sich Giacomo Veronesi mit der Verletzlichkeit des männlichen (Soldaten-)Körpers.

Der Schlossberg wird zur Immobilie

Etliche vielversprechende Beiträge kommen von lokalen Partnern. Etwa die „Kartografie der Lücke“, in dem sich das Drama Forum von uniT einem vergessenes Flüchtlings-Anhaltelager im südsteirischen Wagna widmet. Das hat es immerhin von 1914 bis 1963 gegeben, nun wird untersucht, welche Spuren so ein Ort in der Gegenwart hinterlässt. Die Literaturzeitschrift „manuskripte“ setzt einen Ukraine-Schwerpunkt. Und das Forum Stadtpark, Schauplatz der zweiten herbst-Großausstellung „Harun Farocki gegen den Krieg“, hat zwar keine Leichen im Keller, aber dafür dreimal Kabarett: eSeL (Lorenz Seidler), Les Trucs und Verena Dengler sollen in bester Forum-Tradition für kontroversielle Abende sorgen.

Gleichfalls unter Tage begibt sich das Theater im Bahnhof mit seinem Projekt „Palais Schloßberg“ und macht das Stollensystem in Zeiten von Krieg und Klimakrise zur heißen Immobilie. Das Literaturfestival „Out of Joint“ mit Maja Haderlap, Insa Wilke, Tim Wolff und anderen wird sich dem zukünftigen Blick auf die Gegenwart Zukunft widmen, das Musikprotokoll der „Whodentity“. Umfangreich: Das Parallelprogramm - eine Kunsthaus-Schau mit Hito Steyerl in Graz findet sich da ebenso wie eine vazierende "Hödlmoser"_Dramatisierung und eine Ausstellung über den Architekten Herbert Eichholzer in Eisenerz.