Nach langer Zeit habe ich wieder einmal Besuch von Frau Wegscheider bekommen, denn sie musste mir dringend erzählen, dass sie dem Bundespräsidenten geschrieben hat, und zwar Folgendes:

Sehr geehrter Herr Bundespräsident!
Als Bürgerin, die Sie zu ihrer Vertretung gewählt hat, möchte ich Sie dringend darum bitten sich dafür einzusetzen, dass sämtliche geschäftlichen Beziehungen zu Russland bis zur Beendigung jeglicher militärischen Aggression in der Ukraine eingestellt werden. Es kann nicht angehen, dass ein demokratischer Staat, dessen höchste Werte Frieden, Freiheit und die Wahrung der Grund- und Menschenrechte sein sollten, auch nur irgendeinen Geldfluss in ein Land zulässt, das diese Werte so offensichtlich mit Füßen tritt. Geschäftliche Beziehungen zu einem solchen Land erwecken den Eindruck, dass der höchste Wert unserer Demokratie einzig die Wahrung des Wohlstandes ist. Was zur Zeit von Österreich für die Ukraine geleistet wird, lässt sich in etwa so beschreiben: Man sieht zu, wie ein Kind geschunden, vergewaltigt und gedemütigt wird, und klebt ihm dann Pflaster auf die Wunden. Ich schäme mich für unsere Unfähigkeit, für unsere Grundwerte zu kämpfen. Wenn eine Demokratie nicht dazu bereit ist, ihre Komfortzone zu verlassen, um die oben genannten Werte mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen - dann hat sie ihren Namen nicht verdient. Die EU sollte sich ein Beispiel nehmen an Polen: Dieser Staat handelt richtig, wohl weil er genau das gleiche Szenario erdulden musste.
Lieber Herr Bundespräsident! Im Namen der demokratischen Werte: Bitte setzen Sie sich für ein komplettes Handelsembargo gegen Russland für die Dauer der Aggression gegen die Ukraine ein!

Hochachtungsvoll,
Leonore Wegscheider. (Ergeht in Kopie an Bundeskanzler & Landeshauptmann).

So weit, so gut. Das Dumme an der Geschichte ist nur, der Brief ist vierzehn Tage alt, und niemand hat ihr auch bloß mit einem Wort geantwortet, weder der Bundespräsident, noch der Bundeskanzler, noch der Landeshauptmann. Und was hätten die auch antworten sollen? „Liebe Frau Wegscheider, Sie wissen doch, dass uns das böse V-Dem-Institut der Universität Göteborg im aktuellen Demokratieindex vom Status einer „liberalen Demokratie“ auf jenen einer bloßen „Wählerdemokratie“ heruntergestuft hat. Das heißt, Sie sind dazu da, uns alle fünf oder sechs Jahre zu wählen, und in der übrigen Zeit behalten Sie Ihre Moral für sich, spenden und halten Sie den Mund! Sie dürfen natürlich meinen, was Sie wollen, aber wir ignorieren Sie nicht einmal!“