Wunschkonzerte, in denen Tenöre schmalzige Weisen knödeln, quietschbunte Filme mit oberflächlichen Gassenhauern, dazu schlüpfriger oder einfach saublöder Humor. Die Operettentraditionen nach 1945 haben ein Milieu zum Vorschein gebracht, das ausschließlich aus Klischees zu bestehen scheint. Zwischen Herrenwitz und Damenstrumpf, grellem Kitsch und billiger Sentimentalität hat sich ein kulturelles Feld voller Untiefen aufgetan. Die Autorin Marlene Streeruwitz sprach einmal von der Operette als einem „Archiv des Sexismus, Rassismus und Antisemitismus“.

All dies mag nicht falsch sein, aber es ist zugleich nicht einmal die halbe Wahrheit. Zur Zeit ihrer Entstehung waren Operetten nicht nostalgisch, sondern brandaktuell, nicht verschwitzt, sondern prickelnd erotisch, nicht sentimental, sondern voll tiefgründigem Witz, nicht rassistisch, sondern multikulti.

Quelle und Spiegel

Für den Historiker Moritz Csáky ist die Operette eine Quelle. Und ein Spiegel, in dem die Welt um 1900 deutlich erkennbar wird. Zumal die Welt der Donaumonarchie, wie Csáky in seiner umfänglichen Studie „Das kulturelle Gedächtnis der Wiener Operette“ erläutert. Der Experte für die Wiener Moderne, der 20 Jahre lang an der Grazer Karl-Franzens-Universität lehrte, liefert weniger ein Operettenbuch, sondern beleuchtet die soziokulturellen Bedingungen, von denen dieses Genre geprägt ist, beziehungsweise umgekehrt: Er rekonstruiert die historischen Kontexte, indem er die diversen Merkmale der Operette analysiert.

Moritz Csáky
Moritz Csáky © Uni Graz

Während die Operette der „Goldenen Ära“ (also von Johann Strauß Sohn und Franz von Suppé) vom neuen Selbstbewusstsein des liberalen Bürgertums geprägt war, richteten sich jene der „Silbernen Ära“ (Franz Lehár, Emmerich Kálmán usw.) an eine neue Mittelschicht, die auch durch den massiven Zuzug aus den Kronländern nach Wien entstanden war (1900 wurden 62 Prozent der Bevölkerung als „Fremde“ klassifiziert).

Zweite Phase

Vor allem die zweite Phase der Wiener Operettenproduktion ist für Csákys Analyse ergiebig. Er zeigt, wie sich die Lebensrealitäten der Moderne und der Donaumonarchie um 1900 in diesen Werken spiegeln. Es ist eine transnationale, multikulturelle Welt, deren Pluralismus sich musikalisch in Walzer, Csárdás und Polka manifestiert. Die Operette ist urban (im Gegensatz zur höfischen Genese der Oper), eine Zeitkunst, die über hochaktuelle Zustände spottet und diese belachbar macht, und wo der Witz als Ventil für den Druck neuer Lebenswirklichkeit diente.

Moritz Csáky. Das kulturelle Gedächtnis der Wiener Operette. Holitzer, 351 Seiten, 40 Euro
Moritz Csáky. Das kulturelle Gedächtnis der Wiener Operette. Holitzer, 351 Seiten, 40 Euro © KK

Der mitteleuropäische Raum unter Habsburger Herrschaft, wo sich lokale Traditionen und Identitäten in einem ständigen Austauschprozess untereinander befanden und miteinander verschmelzen konnten, ergab das einzigartige historische Feld, in dem so etwas Elaboriertes wie die Wiener Operette entstehen konnte. Zumindest bis 1918, denn nach dem Ersten Weltkrieg (und später durch die Nazis) kommt es, so Csáky, zu jener Verharmlosung der Operette, von der oben die Rede ist.

Eine Fundgrube

Auch wenn Csáky lange methodologische Exkurse über die Geschichtswissenschaft einflicht und sich zuweilen weit weg vom Thema entfernt: Das Buch ist eine Fundgrube. Und zum Glück steht der Operettenforscher Csáky längst nicht allein auf weiter Flur. Forscher wie Kevin Clarke (den Csáky oft zitiert), Volker Klotz und Ethel Matala de Mazza zeigen, dass die Operette nicht nur einen Schlüssel zum Verständnis der Vergangenheit anbietet, sondern vor allem eines ist: eine eminente Kunstform.