Frau Perner, ganz Österreich kennt Sie als Psychotherapeutin. Seit einiger Zeit sind Sie auch Pfarrerin. Hatten Sie das Gefühl, dass der Seele und ihren Nöten mit der Wissenschaft nicht beizukommen ist?
ROTRAUD A. PERNER: Psychotherapie ist ein Heilverfahren für verkörperte Leidenszustände, Seelsorge hingegen ist etwas ganz anderes, da geht es um die Beziehung zum „großen Ganzen“, das, was wir „Gott“ nennen.
Hoffentlich nicht zu salopp gefragt: Das eine ist Seelsorge, das andere Seelenklempnerei?
PERNER: „Seelenklempnerei“ ist eine abwertende Bezeichnung und stammt von Menschen, die halt wenig wissen über die Tätigkeit und ihre Mühen, die jahrelange Ausbildung und die Umsetzung haben – außer vielleicht die eine oder andere filmische Parodie à la Woody Allen kennen, der ja auch seine eigene Therapie-Bedürftigkeit persifliert. Ich bin ja vom Ursprungsberuf promovierte Juristin – und auch da spotten manche aus eigener Betroffenheit mit dem Wort „Rechtsverdreher“ über Menschen mit mehr Fachwissen als sie selbst haben. Wobei Spott schon Folge einer Persönlichkeitsstörung ist – Menschen in seelischer Balance spotten nicht.
Das heißt, das eine hat mit dem anderen kaum zu tun?
PERNER: Man könnte sagen: Seelsorge verhält sich zu Psychotherapie wie ein Sanitäter zum Arzt. Aber das stimmt nicht, weil es im ersten Fall um Schuld geht - also die Verletzung göttlicher Gebote, um Gewissensqualen -, und im zweiten Fall um Heilung krankheitswertiger Gesundheitsstörungen.
Stehen sich in Ihrem Tun therapeutischer und seelsorgerischer Ansatz manchmal im Wege?
PERNER: Nein, denn es geht immer um Menschen, die Probleme haben. Natürlich kommen zu mir als Pfarrerin auch Menschen, die sich keine Psychotherapie leisten können. Die brauchen jemanden, der ihnen zuhört und ein bisschen Ordnung in ihr Chaos bringt. Wichtig ist, dass gerade wir versuchen, die Menschen so zu begleiten, dass sie - ich zitiere den ersten Johannesbrief – in der Liebe leben, ihre Herzen öffnen, das Verbindende suchen und auf das Trennende verzichten.
Sind damit die Pfarrer nicht oft überfordert?
PERNER: An der evangelischen Fakultät der Universität Wien sind die Kollegen recht gut ausgebildet. Aber von den Geschwisterreligionen landen manchmal Menschen bei mir, die von ihren Geistlichen recht zusammengeschimpft worden sind, wenn sie eigentlich Unterstützung gebraucht hätten. Die richte ich dann wieder auf. Die meisten Menschen möchten ja gerne anständig und gut sein. Das fällt oft schwer, vor allem in Partnerschaften und in der Familie. Und auch bei Trauerfällen wird von den Leuten oft verlangt, dass das mit dem Begräbnis für sie abgeschlossen ist. Aber es ist normal zu trauern, wenn man sehr geliebt hat. Und wenn jemand, der sehr gelitten hat, erlöst ist, darf man auch erleichtert und dankbar sein.
Hat Ihnen das Theologiestudium neue Einsichten über die Menschen gebracht?
PERNER: Nur über manche Professoren …
Und zwar?
PERNER: Es gab Professoren, die mein Wissen als Ergänzung angenommen haben. Andere haben mich schwer diskriminiert. Aber das ist abgeschlossen und ich möchte es nicht an die große Glocke hängen.
Üben Sie eigentlich den Beruf der Pfarrerin aus?
PERNER: Natürlich – aber ich bin altersbedingt im Ehrenamt ohne Bezahlung ordiniert, und mein Amtsauftrag lautet auf Bildungs- und Friedensarbeit. Das heißt, ich arbeite so wie ich es vereinbare, und wie es sich neben meiner Berufstätigkeit ausgeht.
Grundsatzfrage: Ist es wichtiger zu glauben oder zu zweifeln?
PERNER: Dazu muss man erst „glauben“ erklären – da gibt es ja zwei Sichtweisen: in der einen bedeutet glauben alles für wahr zu nehmen, was eine „Autorität“ verlangt – in der anderen bedeutet glauben die tiefe innere Sicherheit zu wissen, wie etwas ist, und da gibt es auch keinen Zweifel mehr. Das ist wie beim echten Lieben - also nicht nur verliebt sein oder begehren oder hörig sein – da kann man gar nicht anders als treu sein, weil wer zweiter , oder noch mehr, keinen Platz haben. Und wenn man „alles“ liebt – wenn man das überhaupt kann in unserer liebesfeindlichen Welt – dann ist das Meditation oder Gebet. Das, was wir „Gott“ nennen – das große Ganze – ist ja der Zustand des Liebens, siehe 1 Joh 4,16: „Gott ist Liebe“. Wir sollen uns ja kein Bild machen, siehe 2 Mose 20,4.
Wenn ich Sie so höre: Wären Sie gern fromm?
PERNER: Wie kommen sie auf die Idee, dass ich es nicht bin?
Oh, Verzeihung! Sie sprachen vorhin von dem, „was wir Gott nennen“, und ich nahm an, dass Sie sich Fragen der Theologie und des Glaubens vor allem aus wissenschaftlichem Interesse nähern.
PERNER: Überhaupt nicht! Ich habe aus vielen Gründen Theologie studiert, aber primär hat mich das Heilende interessiert. Und ich glaube zu wissen: Es geht vom Herzen aus. Wenn ich in die Liebe gehe, fühle ich mich mit allen in der Welt verbunden. Ich halte mich für sehr fromm, weil ich sehr aufpasse, dass meine Seele nicht vergiftet wird. Ich passe auf, dass ich in den Zustand der Gottverbundenheit komme, ohne dabei bigottisch, frömmlerisch oder lammfromm zu sein.
Wir stehen am Beginn der Osterwoche. Wie bewegt Sie das?
PERNER: Die Frage ist mir zu intim.
Was sagen Sie als Pfarrerin den Leuten, die nur zu Weihnachten und Ostern in die Kirche finden?
PERNER: Ich denke, die Fragen kommen, wann sie wollen. Es gibt immer wieder Situation, in denen die Leute ihre Seele nach oben aufmachen und sich an das, was wir Gott nennen, wenden. Und dann ist das der richtige Weg. Ich war ja selbst lange Atheistin und Vorstandsmitglied im österreichischen Freidenkerbund. Ich bin areligiös erzogen worden. Dann sind einige Dinge in meinem Leben passiert, die mich begreifen ließen, um was es da eigentlich geht. Aber das hat lange gedauert. Ob also jemand Glauben leben mag oder glaubt, darauf verzichten zu können – da mische ich mich nicht ein. Das Problem, das ich sehe: Das Leben ist so schnell geworden, der Tiefgang fehlt. Aber für manche Dinge braucht man Zeit. Wir stehen vor der Karwoche, da meditiere ich und möchte zur Besinnung kommen.
Die Passionsgeschichte ist auch die Geschichte einer Frau, die ihr Kind verliert. Wundert es Sie, dass Frauen dieses Thema kaum für sich reklamiert haben?
PERNER: Nein – wir alle, die wir hier Erfahrungen haben, wollen in Ruhe trauern und uns nicht damit wichtigmachen.
Was sagen Sie zum jüngst erfolgten Verbot der Segnung gleichgeschlechtlicher Paare in der katholischen Kirche?
PERNER: Bei uns Protestanten bleibt die Entscheidung jedem Pfarrer überlassen. Als Sexualethikerin sehe ich Adam und Eva nicht als das erste Ehepaar, sondern als Prototyp für Beziehungen. Und den Satz: „Seid fruchtbar und mehret euch“ kann man auch mit „Seid kreativ und fördert einander“ übersetzen. Das Problem hat offensichtlich die Glaubenskongregation, die primär Sexbilder im Kopf hat. Aber letztlich geht es bei der Frage der Segnungen um die Frage, ob man jemanden lieben will, nicht um schnellen Zeit- oder Einsamkeitsvertreib.
Als ich einer Freundin von dem Interview mit Ihnen erzählt habe, sagte sie: Warum ist die jetzt Pfarrerin, die ist doch auf Sex spezialisiert? Was glauben Sie, warum irritiert die Verbindung von Sexualität und Theologie nach wie vor?
PERNER: Irrtum: ich war und bin nicht „auf Sex spezialisiert“ – ich bin auf Schwersttraumatisierungen und Gewalt spezialisiert, und das hat unter anderem auch mit sexueller Ausbeutung, Missbrauch und Vergewaltigung zu tun, aber mehr noch mit drohenden oder manifesten Todeserfahrungen. Außerdem: Sexualität ist nicht Sex, Theologie ist ein forschender Wissenschaftszweig, das ist wieder zu salopp „verbunden“ – was irritiert, ist der Umgang mancher Kirchenfunktionäre.
Inwiefern?
PERNER: Katholische Priester zum Beispiel kamen mit unterschiedlichsten Problemstellungen zu mir in die Therapie, aber die meisten haben mit Sexualität zu tun. Das liegt auch daran, dass man sich in diesen Fragen an die Kirchenväter hält, ohne sie zu hinterfragen. So entstehen Verkrampfungen; es gibt aber Mediationstechniken, mit denen die sich überwinden lassen. Nur wissen das die meisten nicht.
Sie haben vor einiger Zeit ihre langjährige politische Heimat SPÖ im Zorn verlassen – wegen frauenverachtender Aussagen des damaligen Bundesgeschäftsführers. Wie sehen Sie die Partei heute?
PERNER: Nochmals Irrtum: nicht im Zorn. Ich neige nicht zu Affekten. Sondern weil ich – im August 2017, also 14 Tage vor meinem 50-Jahr-Mitglied-Jubiläum – die Politik und insbesondere das Dirty Campaigning nicht mehr finanziell unterstützen wollte.
Sie begleiten und prägen die Emanzipationsbewegung seit vielen Jahren. Hat die #metoo-Debatte uns weitergebracht?
PERNER: Schon, sehr – das Phänomen kann nicht mehr als „Einzelfall“ abgetan werden – auch wenn manche Frauen mit derartigen Gegenreden sich PR verschaffen wollen. Nur im Sport leben noch die Schweigegebote – die mutige Nicola Werdenigg bräuchte viel mehr Unterstützung! Ich weiß von einigen Klient_innen, wie recht sie hat!
Warum ringen wir Frauen nach so langer Zeit noch immer mit denselben Themen?
PERNER: Erstens, weil es mächtige Gegner gibt - auch innerhalb politischer Parteien. Zweitens, weil die Strategien dringend verbesserungsbedürftig sind. Drittens, weil in unserer gegenwärtigen Immer-und-überall-Öffentlichkeit jede Bemühung sofort als Anlass für Abwertungen, Spott und persönliche Attacken genutzt wird – das nimmt Kraft.
Wo sehen Sie denn verbesserungsbedürftige Strategien?
PERNER: Ich arbeite auch als strategischer Coach, und aus der Perspektive halte ich die Kampfstrategie für falsch. Das vergeudet Energie und gibt dem Gegenüber Angriffsflächen. Man kämpft mit dem Körper, aber Probleme löst man mit dem Hirn. Man muss sich also die Fakten holen, unaufgeregt argumentieren und solidarisch agieren. Das ist natürlich zeitintensiv. Die Aufgabe von Leuten, die wirklich etwas verändern wollen, ist es, viel Zeit ins Nachdenken, Reflektieren, Kritisieren zu investieren.
Haben wir denn die Zeit?
PERNER: Man braucht diesen dialektischen Prozess, damit man auch spürt, ob man auf dem richtigen Weg ist. Wenn etwas sein soll, dann gelingt es, aber dafür braucht es auch Kritik. Nicht hämischen Spott, wie er heute üblich ist. Gerade in der Politik herrscht derzeit ein Klima, das ich für gesundheitsschädigend halte.
Färbt das ab?
PERNER: Ja, Ich lebe in einem kleinen Ort, auch da merke ich, wie sich das, was die Leute von sich geben, verschärft. Zu Ostern vor einem Jahr war noch alles solidarisch und kooperativ. Seit Herbst verschärft sich das Klima von Woche zu Woche.
Was tun?
PERNER: Es ist sicher schwer, diese Situation gelassen zu durchleben. Aber man kann sich selbst gut zureden und beruhigen. Menschen, die eine gute Verbindung haben zu dem, was sie Gott nennen, tun sich da leichter, weil sie gelernt haben, sich zu öffnen. Ob man es Selbstvertrauen oder Gottvertrauen nennt – in diesem Zustand öffnet man das Herz. Und wenn man nicht um Konkretes bittet, sondern darum betet, offen zu sein für das, was kommen mag, kriegt man die Kraft, die es braucht.
Wenn man sich Ihre Lebensleistung anschaut, bleibt einem fast der Atem weg: Jusstudium, fünf Psychotherapieausbildungen, Theologiestudium; mehr als 60 Bücher zu Themen wie der sexuellen Ausbeutung von Kindern, Missbrauch, Ich-Sucht, Erschöpfung, Freiheit, Einsamkeit, Ungehorsam. Und eines ihrer Bücher befasst sich mit der Stressbelastung von niederösterreichischen Schulwarten. Gibt es nichts, was Sie nicht interessiert?
PERNER: Kann ich nicht sagen. Ich nehme einfach auf, was mir zufällt. Inspirationen. Ich sehe mich als eine in der Familie der „Goldmaries“ im Märchen von der „Frau Holle": Ich höre das Brot rufen und den Apfelbaum … und dann hole ich das eben raus oder runter. Der Lohn ist mir ziemlich egal.
Was ruft zur Zeit? Woran arbeiten Sie jetzt gerade?
PERNER: An der Fertigstellung meiner Vorjahresforschung „Peace Education in der Elementarpädagogik“ und an der Suche nach einem Verlag für mein nächstes Buch über „Das Böse“.
Das provoziert die Frage an die Ethikerin: Braucht es die Religion, um uns von dem Bösen zu erlösen? Geht uns ohne Spiritualität die Kraft zum Guten aus?
PERNER: Das würde ich bejahen, und zwar deswegen: Aus jüdisch-christlicher Sicht besteht vor dem Sündenfall Einheit. Dann kommt die Erkenntnis, dass die Existenz in einen lichten und einen dunklen, ein guten und einen bösen Teil gespalten werden kann. Die Heiligen Schriften versuchen dieses Ringen um die Struktur der Welt poetisch zu vermitteln: Unsere Lebensaufgabe ist es, wieder eine Einheit wie im Garten Eden zu erlangen – und das gelingt, indem ich das Böse liebend aushalte, es also integriere und kontrolliere. Das ist meine Interpretation, und sie basiert zum Teil natürlich auf C.G. Jung. Aber auch die Theologie ist ein Weg, sich damit wissenschaftlich auseinanderzusetzen.
Wir haben Osterferien. Nichtstun, können Sie das auch?
PERNER: Na klar – ich bin Sternzeichen Löwe, und Riesenkatzen können gut faul in der Sonne liegen.
Was raten Sie Corona-Müden, die nicht faul in der Sonne liegen mögen und den Stillstand nur noch schlecht aushalten?
PERNER: Für Leute, die auch jenseits von Beruf und Familie Interessen haben, ist die Lage halbwegs erträglich. Aber es gibt viele Menschen, die da nie gefördert wurden. Ich kenne das aus der Therapie: Wenn man diese Leute fragt: Was hätten Sie als Kind gern gemacht, was Sie nicht durften?, dann fällt ihnen nichts ein. Aber man kann sich immer fragen: Was habe ich noch nie mit meinen Händen gemacht? Mit meiner Stimme? Was gibt es noch in mir selbst zu entfalten? Wer verinnerlichte Lernsätze wie „Du bist zu alt!“ oder „Was werden die Leute dazu sagen!“ ablegt, kann in jedem Alter ein neues Instrument oder eine neue Sprache lernen. Auch online. Leute, die allein leben, müssen natürlich irgendwo andocken können. Das wäre eigentlich eine Aufgabe für die Kommunen, Alleinstehende zusammenzubringen und dafür Ideen und Strategien zu entwickeln, auch wenn sie utopisch erscheinen.
Ute Baumhackl