Warum verlegt Andrea Breth die Geschichte der von Visionen geplagten, labilen Renata und ihres robusten Begleiters Ruprecht aus dem 16. Jahrhundert in dieses beklemmende Ambiente? Gewiss, der Kunstgriff, den man derzeit verdächtig oft auf Opernbühnen sieht, verringert Regie-Probleme. Wenn alle verrückt sind, verschwinden auch alle Widersprüche problematischer Libretti wie von Zauberhand. Aber was lässt sich dann noch erklären, erzählen?
Prokofjews Werk, das er 1927 fertigstellen, aber nie auf einer Bühne sehen konnte, ist seltsam und ziemlich überspannt. Renata hat sich schon als Kind in Madiel verliebt, ihre Vision eines „Feurigen Engels“. Sobald sie aber mehr als keusche Ermahnungen von ihm will, entschwindet er. Seither sucht sie Madiel in leibhaftigen Männern, was naturgemäß kein gutes Ende nimmt. Kaum flieht Renata ins Kloster, greifen ihre erotischen Visionen auf die übrigen Nonnen über. Der Inquisitor setzt dem Spuk mit seinen Mitteln ein Ende.
Der symbolistische Roman Waleri Brjussows, den Prokofjew selbst zum Libretto umgearbeitet hat, handelt von vielem, nur nicht vom Missbrauch der Psychiatrie. Der aber interessiert Andrea Breth, nicht das frühe 16. Jahrhundert, Keuschheit, überspannte Sexualität, der Teufel und die Religion. Leider sind das die Themen der Oper.
Der monotone Erzählstrang, den sie mit ausdrucksstarken Leidensbildern auf die Bühne bringt, kann das gewaltige Suggestionswerk von Prokofjews Musik nicht schwächen. Vielleicht befeuern die grau-weißen Anstaltsbilder Martin Zehetgrubers sogar noch die Phantasie des Zuhörers, sofern er weiß, wovon die Rede ist. Je länger der Abend, desto stärker konzentriert man sich instinktiv auf die raffinierten, expressiven Klangorgien, die das ORF-Orchester unter der Leitung von Constantin Trinks entfacht, auf die Darstellungskunst der Protagonisten und zuletzt auf den atemberaubend präzisen, ausdrucksstarken Arnold-Schönberg-Chor.
Bo Skovhus und Ausrine Stundyte, die als Ruprecht und Renata den zweistündigen Kraftakt weitgehend alleine tragen, zwingen das Publikum, ihnen in die extremsten Gefühlszustände zu folgen. Stundyte, die im letzten Sommer in Salzburg die Hassorgien der Elektra packend gestaltet hat, entwickelt für diese Rolle einen Sprechgesangsstil, der die seelischen Qualen Renatas beklemmend illustriert. Weil ihr aber der Klinikalltag keinen Moment der Ruhe, der Normalität gönnt - Prokofjews Partitur kennt durchaus lyrische Inseln der Ruhe und des Seelenfriedens - fällt die Identifikation mit ihrem Leiden schwer. Außerdem nimmt der Kunstgriff der Regie ihr die dämonische Seite. Renata ist nur noch Opfer – ihrer Zustände und ihrer Ärzte.
Im letzten Bild ersetzt Breth den Inquisitor – bedrohlich und stimmgewaltig Alexey Tikhomirov – durch den Kulturkommissar Andrej Schdanow, der Prokofjew in der Sowjetunion das Leben zur Hölle machte. Zu den sich irrwitzig auftürmenden Klängen der „besessenen“ Klosterschwestern, die in bis zur Decke getürmten Krankenbetten hocken, kritzelt er demonstrativ in Partituren, ehe er Renata erschießt. Als Beitrag zur Deutung dieser komplexen Oper kann auch das nicht gelten.
Bedauerlich, dass nur ein paar Journalisten den packenden Abend live sehen konnten. Am 27. März überträgt Ö1 die Oper um 19.30 Uhr. Eine DVD ist in Vorbereitung.
Thomas Götz