In einem einzigartigen globalen (und finanziellen) Kraftakt wurde ein Gegenmittel gegen die Pandemie gefunden – aber aktuell wollen sich nur 20 Prozent aller Österreicher*innen gegen Covid-19 impfen lassen. Das kann man befremdlich finden, kulturhistorisch ist die Impfskepsis allerdings kein Phänomen unserer Zeit.
Von Voltaire (1694–1778), dem großen Philosophen der französischen Aufklärung, ist ein Text erhalten, der einen Kulturkampf rund um die Pocken beschreibt. Die hatten im Europa des 18. Jahrhunderts die Pest als gefährlichste Krankheit abgelöst, 400.000 Menschen starben jedes Jahr daran. Wer überlebte, trug – wie Haydn, Mozart, Beethoven, Goethe – nicht selten hässliche Narben davon.


Das brachte sogar die Heiratspolitik der Habsburger durcheinander. Maria Elisabeth etwa, Fünftgeborene von Kaiserin Maria Theresia, war so hübsch, dass sie als Hoffnung für eine besonders bedeutende politische Heirat gehandelt wurde. Eine Pockenkrankheit durchkreuzte den Plan: Vernarbt, wie sie war, schaffte sie es lediglich zur Äbtissin von Innsbruck.

Wie der Adel impfte


Voltaire, der von 1726 bis 1728 im englischen Exil lebte, lernte dort nicht nur das parlamentarische System, die industrielle Revolution und die Theorien des Physikers Isaac Newton bewundern, sondern auch ein frühes Impfverfahren des englischen Adels: Der steckte sich, seine Kinder und sein Gesinde gezielt mit abklingenden Pocken an, in der Hoffnung auf einen kontrollierten, milderen Krankheitsverlauf. Methode: eine in Pockenpusteln getauchte Lanzette und ein aufgeritzter Arm. „Diese Pustel wirkt in dem Arm, an dem sie angesetzt ist, wie Hefe im Teig“, schrieb Voltaire, „sie arbeitet dort und verteilt über das ganze Blut die Eigenschaften, von denen sie durchsetzt ist.“


Ihm zufolge ging der auch Variolation genannte Brauch auf die Tscherkessen zurück (die angeblich ihre Töchter impften, um sie narbenlos und möglichst gewinnträchtig an Harems verkaufen zu können) und sei auch in China und der Türkei verbreitet. Dort erlebte die Frau eines englischen Handelsreisenden die Methode und begeisterte die Prinzessin von Wales dafür. Diese ließ die fremdländische Methode an vier zum Tode verurteilten Verbrechern testen, „denen sie zweifach das Leben rettete“, wie Voltaire folgert: Die Männer entkamen dem Galgen und dem Pockentod. Anderswo in Europa hielt man die impfaffinen Engländer für „Narren“ und „Tollköpfe“.


Kein Wunder: Zwei bis drei Prozent der derart Geimpften starben an der keineswegs immer freiwilligen Behandlung. Heute weiß man: Impfgegnerschaft beruht oft auf Ideologie, Falschinformation, Wissenschaftsleugnung. Angesichts der genannten Sterblichkeitsraten drängt sich hier aber durchaus auch die These von der transgenerationalen Weitergabe traumatischer Erfahrungen auf.


Auch Immanuel Kant (1724–1804), neben Voltaire der zweite Philosoph im Kontext einer Kulturgeschichte der Impfung, ist im Übrigen wohl zu ihren Skeptikern zu zählen: Die „Pockeninoculation“ sei wegen ihres Risikos nahe an der ethisch verwerflichen Selbsttötung, befand er. Und überlegte gar, ob es recht sei, der „Vorsehung“, die übermäßiges Bevölkerungswachstum durch Krieg und Pockenepidemien bremse, durch Impfungen in den Arm zu fallen.


Immerhin: Das Risiko der Schutzimpfung sank bald dramatisch. Nämlich, als der britische Arzt Edward Jenner (1749–1823) erkannte, dass auch eine Ansteckung mit den weit harmloseren Kuhpocken gegen die echten Pocken immunisierte. In seinen Experimenten war auch er nicht zimperlich: Um seine Annahme bestätigt zu sehen, infizierte er 1796 den acht Jahre alten Sohn seines Gärtners: erst mit Kuhpocken, dann mit echten Pocken. Insgesamt 20 Mal. Heute wäre das mindestens wiederholte schwere Körperverletzung. In Sachen Pockenschutz führte Jenners Methode zum Durchbruch. Schon 1807 führte Bayern als weltweit erstes Land eine Impfpflicht ein.


Erst viel später war gegen Pocken ein modernes Vakzin (benannt nach dem Vacciniavirus, das die Kuhpocken auslöst) zu haben, von 1958 bis 1977 führte die WHO eine weltweite Impfkampagne durch, mit der das Pockenvirus letztlich ausgerottet wurde – 250 Jahre nach Voltaires Plädoyer für die Impfung.


Bei Covid-19 muss das viel, viel schneller gehen: An den Nebenwirkungen des Nichtgeimpftseins starben in Österreich in diesem Jahr schon mehr als 5000 Menschen.