PETER HANDKE: Ich warne Sie, ich bin schlecht gelaunt.

Wir freuen uns trotzdem.

Warum freuen Sie sich?

Absichtslos.

Das ist gut. Kommen Sie weiter.

In Ihrem neuen Journal schreiben Sie: „Keiner fragt mehr, wie es mir geht. Bin ich schon unsterblich?“ Weil wir nicht davon ausgehen, fragen halt wir: Wie geht es?

Den Umständen entsprechend.

Wie sind die Umstände?

Es gibt nahe und ferne. Aber es geht mir gut. Ich bin dankbar.

Dankbar fürs Dasein?

Es ist gut, dass es Probleme gibt. Ohne sie wäre der Tag öde. Statt Dankbarkeit würde ich aber eher sagen: Erkenntlichkeit.

Dankbar sein reicht doch.

Erkenntlichkeit ist aktiv. Da ist Aktivität drinnen. Dankbarkeit ist mehr passiv. Ich bin erkenntlich, ich möchte was tun.

Kann man das lernen?

Nein, es kommt. Das schönste Lernen ist, wenn es nicht als Lernen auftritt. Der schönste Lehrer ist der, der nicht als Lehrer auftritt.

Ohne Katheder, ohne Staberl, sinnbildlich gesprochen?

Ich hab', als ich noch nicht im Internat war, einen Hauptschullehrer gehabt, der hat Geige gespielt. Der hat mir mit dem Bogen einmal hinten eins draufgegeben. Daran denke ich nicht gerade mit Erkenntlichkeit. Ich war elf und hatte eine Lederjacke an. Woher die kam, weiß ich nicht mehr. Aber das Geräusch vom Geigenbogen auf dem Leder, das weiß ich noch ganz genau. Und dass es mir nicht wehgetan hat. Es war nur das Geräusch.

Muss sich das Dankbarsein zur Freude steigern? Als Haltung?

Ich kann die Freude nicht verkünden. Oder vielleicht manchmal doch. Ohne dass man Angst kriegt vor der Verkündung, ohne dass es Apokalypse wird. Da schauen Sie jetzt wie der erste Märtyrer!

Sie halten die Glücksfähigkeit für übrig, die Fähigkeit zur Freude nicht. So lesen wir Ihre Notizen.

Freude ist ein Rätsel. Ich weiß auch nicht, woher die kommt. Manchmal denkt man, was ist los mit mir. Es ist eigentlich alles da und es freut mich nicht.

Hat es mit dem Alter zu tun?

Was weiß ich! Hat Freud eigentlich die Freude erforscht? Der hatte ja überall seine Finger drinnen. Freudlos zu leben, ist eine Schande. Und ich rede jetzt nicht von denen, wo sich die Freude körperlich und psychisch nicht entwickeln kann.

Und bei allen anderen ist es etwas Verwerfliches?

Freudlosigkeit ist fast eine Sünde. Ab und zu ist das Wort Sünde am Platz. Ich glaube, sogar die Muslime kennen sie.

Im Tagebuch zitieren Sie immer wieder aus dem Koran, woher kommt die Neugier?

Ich hab das damals halt buchstabiert. Ich hab ein riesiges Wörterbuch, Arabisch - Deutsch und Deutsch - Arabisch. Ich hab vor allem die islamischen Mystiker gelesen, die Sufis. Die, die an der Grenze zwischen Poesie und Denken sind. Wie kommt Dichtung mit Religion zurecht? Wie Religion mit Dichtung? Die Sufis wurden immer wieder verfolgt. Islam und Staat ist die große Gefahr. Das war auch die christliche Religion, immer dann, wenn sie Staatsreligion wurde, Machtreligion. Das hat den Horror hervorgebracht.

Die „Schöpfungsmordbuben“, wie Sie die islamistischen Terroristen im Tagebuch nennen. Auch die zitieren den Koran.

Ja, aber erst am Ende.

Der Terror von Paris kommt kaum vor, wohl aber das Verhältnis zwischen Mann und Frau. Sie schreiben, es gebe keine größere Verschiedenheit als zwischen Mann und Frau. Und doch seien beide gleich verletzlich. Ist das Ihre Bilanz?

Ach, das habe ich vergessen. Das steht da?

Haben Sie vergessen, es rauszustreichen?

Nein, das ist schon recht. Wenn es dasteht.

Ist es nicht wahr?

Es war halt so ein Anflug. Das ist keine Behauptung, es kam eher wie ein Seufzer aus mir. Das hat keinen absoluten Wahrheitsanspruch. Ich bin ja nicht Paulo Coelho.

Es ist also ungeklärt.

Führen Sie mich nicht aufs Glatteis! Das sollen die für sich klären, die es lesen. Es ist, wie sagt man, kein Thema mehr.

Für Ihre Frau aber schon. Im neuen Filmporträt über Sie, „Bin im Wald, kann sein, dass ich mich verspäte“, sagt sie: „Um mit diesem Herrn gemeinsam leben zu können, bräuchte man ein Schloss mit zwei Flügeln.“

Ich hab gehört, dass sie das im Film sagt. Ich habe ihn nicht gesehen. Das ist jetzt kein Anflug, das ist ein Blödsinn, was ich sage: Männer sind manchmal ärmer als die Frauen.

Warum ärmer?

Lassen Sie mich in Ruhe mit dem Zeug da! Haben Sie Probleme? Wollen Sie eine psychoanalytische Führung von mir, oder was?

Ja, schon.

Ich bin ein Versager in dem Sinn, aber glorreich.

Versager für die Lebensform der Ehe?

Ja.

Unbegabt?

Ich glaube nicht. Ich fühle mich überhaupt nicht schuldig. Aber ich werde immer beschuldigt. Ich habe immer gedacht, mein Ideal ist: beides zu verbinden.

Das Künstlerische und das Bürgerliche?

Nicht dieses Bürgertum von Thomas Mann, der die Kinder nebenbei macht, fünf Kinder, aber seine Sache ist dann das Romanschreiben. Ich wollte immer Familie. Wenn man schon lebt, dann mit Frau und Kindern. Das ist klar. Familie, Segen und Fluch, eigentlich doch mehr Segen oder ein Segensfluch, ein verfluchter Segen meiner Arbeit. Aber das Wort Arbeit mag ich auch nicht - ein verfluchter Segen meines Tuns und Lassens, meines Aufschreibens. Ich sag lieber „aufschreiben“, weil „schreiben“ ist ausgeleiert. Aber niederschreiben. Du kannst ja nicht hochschreiben, wohl aber niederschreiben, aufschreiben, weiterschreiben.

Die Kinder schreiben Sie hoch.

Sagt man so?

Sie nennen Sie Heilige.

Es gibt auch Teufel als Kinder. Mir kommt vor, immer mehr werden schon als Teufel geboren.

Sie nennen sie tatsächlich „Menschenfresser“ im Tagebuch.

Wenn man die schon im Kinderwagen sieht, wie die einen anschauen, kriegt man Angst. Nein, das stimmt nicht. Wenn die liegen und schauen, das sind Prüfer, die prüfen einen, die Kinder, die kleinen. Und dann später werden sie selbst geprüft und hören auf zu prüfen.

Sie meinen, Kinderaugen sind ein Geheimnis, das einen herausfordert?

„Kinderaugen“ ist ein widerliches Wort! Augen von einem Kind, das schaut und schaut und schaut. Man müsste einen Kinderpsychologen fragen, ab wann das aufhört, ab wann dieses Schauen aufhört.

Ist es nur ein Prüfen?

Es ist auch eine Erwartung. Sie wollen Antwort haben, glaube ich, mit den Augen.

Sie schreiben von der „Einsamkeit der Familienväter“ und der Angst, dass die Kinder „verloren gehen“. Was für ein Verlorengehen meinen Sie?

Dazu fällt mir ein Vers von Rilke ein. Ein Kind spielt Ball und er sagt: „Ein Kind, ach ein vergängliches.“ Mir kam immer vor, dass bei den Menschen, wenn es ans Sterben ging und ich dabei war, das Kindliche zurückkam. Dass das Kind doch nicht vergänglich im Sinn von Rilke ist: Aber das werden die Krankenpfleger besser wissen als ich.

Es gibt einen schönen Moment im Filmporträt, wo Ihre Tochter auftritt. Sie erzählen von einer Ohrfeige, die Sie ihr gegeben haben und wie sehr Sie darunter litten. Ihre Tochter widerspricht: Viel schlimmer sei für sie das Fortgehen der Mutter gewesen. Sie entgegnen, danach habe doch eine schöne Stille geherrscht, was die Tochter verneint. Ist das mit dem Verlust gemeint? Das Kind empfindet plötzlich ganz und gar anders als man selbst?

Ja, man weiß nicht, was in einem Kind vor sich geht, nicht?

Man könnte auch sagen: Wo Ihr Leben an das Leben eines anderen gerät, wird es kompliziert.

Oder schön, oder beides. Ich hab das meiner Tochter nicht abgenommen eigentlich. Ich glaub's nicht. Aber wenn sie es sagt, dann muss man es akzeptieren, dass sie es gesagt hat. Das war kaum je eine richtige Familie. So ist es vielen jungen Paaren in den 70er-Jahren widerfahren. Jeder hat improvisiert, wie man weiterkommt als Familie. Es war ein Durcheinander, inspiriert durch all diese Sexualtheorien. Man ist froh, dass man die alle loshat. Mein Leben war auf Familie gerichtet, ich wiederhole mich. Es war ein Weg-von-der-Familie, wo meine Mutter war: weg, nur weg, nur eine andere Familie.

Eine heilere?

Eine wie in der Bibel. Haben Sie die nicht gelesen? Der Vater, der nicht der Vater ist. Die Mutter, die Jungfrau ist, wenn's wahr ist. Und das Kind, das vom Himmel kommt. Das ist mein Ideal.

Das klingt politisch unkorrekt.

Ja, die Welt macht Fortschritte, sagt die Politik. Homosexuelle ziehen Kinder auf und gehen Ehen ein. Aber das darf man nicht Ehe nennen. Es gibt den Pakt, das ist auch richtig so: Ich bin dafür, dass man homosexuellen Paaren ihre Sicherheit gibt und ihre Würde, aber dass man das nicht Ehe nennt.

Warum betonen Sie die Unterscheidung?

Weil die Ehe ein Sakrament ist, eine geheiligte Verbindung, bis dass der Tod euch scheidet. Das ist sehr schön gesagt. Das gibt Energie. Es gibt viel Verzweiflung dazwischen. Jeder neigt dazu, zu verschwinden und seine Verantwortung für den anderen abzulegen, weil es zu viel ist. Weil das Leben zu zweit oder zu dritt unglaublich unerträglich sein kann. Aber das Ideal besteht, diese Idee einfach.

Vor Ihnen am Tisch liegt Joinvilles „Leben des heiligen Ludwig“. Was haben Sie mit dem?

Ludwig war ein Kindskopf. Er hat so eine seltsame Kappe am Kopf gehabt, und sein Schiff ist untergegangen auf dem Kreuzzug. Aber er wollte alles gut machen. Manchmal denke ich mir, das Mittelalter war auch eine helle Zeit, nicht nur finster. Wenn man diese Epen liest, den Parzival, diese Sehnsucht. Auch, wie man die Frauen gesehen hat. Das war von einer Freundlichkeit und Ironie zugleich. Man hat gewusst, es ist eh nicht so. Aber man muss so tun, weil es im Inneren so ist. Und dann kam der Realismus. Keinen Menschen interessiert, wie es realistisch ist. Joinville schreibt über Ludwig den Heiligen auch, dass er wunderbar gestorben ist.

Was könnte das sein, wunderbar sterben?

Das frage ich mich auch, obwohl ich das immer und immer wieder gelesen habe. Was ist selig sterben?

Zu Ludwigs Zeiten meinte man damit: vorbereitet sterben.

Ich habe seit meiner Geburt Herzprobleme, aber ich möchte nicht einfach umfallen. Ich denke jeden Tag, ich möchte mindestens zwei Monate erleben, wie das auf und ab geht. Ich möchte Abschied nehmen. Ich möchte, wie es so schön heißt, das Zeitliche segnen. Für Momente. Mein Gott, nichts geht in Erfüllung, was man so wünscht.

Im Tagebuch ist der Tod kein Thema. Warum weichen Sie ihm aus?

Ich traue mich nicht. Das hat keine Form. Es hat keine Grammatik. Ich weiß nicht, wie die Sätze gehen. Die Priester haben das Evangelium, die können wiederholen, was Jesus sagt: Warum hast du mich verlassen? Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist. Und: Es ist vollbracht.

Könnte man es schöner sagen?

Eigentlich nicht, es ist ein guter Dreischritt, Dreisprung.

Wie kann das Abschiednehmen gelingen?

Jeden Tag nimmt man Abschied. Jeden Tag, wenn ich meine Frau sehe. Ich lebe hier im Vorort weit weg. Wir sehen uns fast täglich. Jeden Tag an der Türe, ein Abschiednehmen, Abschied, Abschied.

Die Welt jung schauen und jung hören, auch im Alter: Ideal. So heißt es im Tagebuch.

Habe ich das geschrieben? Schön.

Und wir haben gedacht, alles ist betrachtet und geschaut.

Sie haben gedacht! Sie werden aber noch lange schauen!

Im Journal beschreiben Sie Rotkehlchen, Tautropfen und Zitronenfalter. Kann man das: sich die Welt vom Leib halten, wenn sie aus den Fugen gerät?

Ach, hören Sie auf! Die Welt aus den Fugen, das höre ich jeden Tag drei Mal.

Stimmt es denn nicht?

Nein. Das ist alles, was ich zu sagen habe, nein! Wenn ein Mensch zugrunde geht, dann ist die Welt schon aus den Fugen.

Ist das nicht Weltflucht?

Wenn Sie das Flucht nennen, bitte. Die menschliche Seele reagiert so. Am Tag gibt es Momente, in denen man gerade dadurch, was Sie „aus den Fugen“ nennen, sieht, was in den Fugen ist, was fugt. Wenn man da einen Schmetterling wahrnimmt, ist das kein Biedermeier.

„Meine Rettung“ sagen Sie zum Zuhause, „das schöne Abseits“.

Ich habe meine drei Apfelbäume gepflanzt. Ich hab gedacht, wenn schon der Garten ist, dann muss etwas Fruchtbares herauskommen. Aber ich bin nicht sicher, ob es eine gute Idee war.

Warum nicht?

Weil die Amseln eh alles fressen.

Der Ton im Buch wirkt ruhiger und versöhnter.

Jemand, ein Journalist sogar, hat gesagt, ich bin ein streitbar friedlicher Mensch. Ausbrüche mache ich nur mehr ab und zu einen, damit das eine Art hat. Als Person bin ich manchmal einfach antisozial. Aber im Schreiben bin ich sozial. In dem, was ich aufschreibe, bin ich endlich weg von der Idiotie, der Sprachlosigkeit. Mein Schreiben ist ein Sozialisieren - aber nicht der anderen, sondern von mir selbst. Ich werde sozial, nur wenn ich die Form habe, wenn ich zur Form komme, wenn die Form mich erwischt.

Sie werden heuer 75 und schreiben: „Das Gartentor ölen, die Kaffeetassen kleben, Schluss damit!“ Ist das die Kosten-Nutzen-Rechnung des Alters?

Das Gartentor habe ich noch geölt, nachdem ich das aufgeschrieben habe. Aber heute Früh habe ich eine Tasse zerbrochen, an der ich gehangen bin. Und da habe ich gedacht, nein, das klebe ich nicht mehr. Vieles, mein Gott, zahlt sich nicht mehr aus, so denke ich mir. Mein Zahnarzt hat eine Art Bildschirm, da sind alphabetisch alle Patienten mit den Geburtsdaten angeführt. Bis er zu H kommt, bin ich der Älteste von denen, die waagrecht vor ihm liegen müssen.

Sie wissen ja nicht, wer nach Ihnen noch kommt.

Irrtümlich geht es oft weiter, und die sind nicht viel älter. Die Alten gehen woanders hin, die gehen nicht mehr zum Zahnarzt. Ich bin der älteste von diesen Zahnarztpatienten. Sogar im Vorortzug. Ich schaue um mich und sehe: Ich bin der Älteste. Die Alten trauen sich nicht mehr in die Metro.

Weil es zu beschwerlich ist?

Schauen Sie im Internet, warum die sich nicht trauen. Ich habe keine Lust, irgendwelche Ursachen zu finden. Das ist eure Zeitungsarbeit. Ich nehme nur wahr, sogar in der Bar am Bahnhof sind alle jünger als ich.

Erschreckt Sie das?

Nein, ich freue mich des Lebens. Wir schauen dort alle gemeinsam Fußball. Ich bin der Fanatischste, weil ich die Spielzüge am besten sehe. Und wenn wir dann gemeinsam schauen und Paris Saint-Germain schlägt den FC Barcelona vier zu null, dann sind wir für einen Augenblick alle gleich jung.