Mein Heimatdorf Kamering ist im Jahre 1897 zur Gänze abgebrannt, 26 Objekte gingen in Flammen auf. Kinder zündeten auf einer Tennbrücke trockenes Heu an, der Wind trieb es in den Heustadel hinein. Danach wurde das Dorf kreuzförmig wiederaufgebaut, in gutem Glauben, damit es zu keinem Unglück mehr kommt. Die vielen Unglücke, die trotzdem gekommen sind, habe ich in meinen Büchern ausführlich beschrieben.

Der Vater hat mich nicht vergessen

In meiner Kindheit gab es viele glückliche Momente, und ich habe sie auch beschrieben. Wenn ein Kalb krank wurde, ging der Vater mit einem Fieberthermometer auch um 2 Uhr früh in den Stall. War ich als Kind krank, dauerte es zwei, drei Tage, bis er mich im Kinderzimmer besuchen kam. Als er dann doch noch kam, bevor ich wieder gesund wurde, war ich ebenfalls glücklich, weil er mich doch nicht vergessen hatte. Für Mensch und Tier wurde dasselbe Fieberthermometer verwendet. „Arsch ist Arsch!“ sagte der Vater.

Als Beobachter beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2018
Als Beobachter beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2018 © elisabeth peutz

Beschäftigter Erzministrant

Wir Geschwister waren untereinander eigentlich nicht füreinander da, es gab in diesem Sinne keinen ausgesprochenen Zusammenhalt, dazu sind wir leider nicht erzogen worden. Ich war als Erzministrant aber immer sehr beschäftigt, war oft im Pfarrhof, trug samstags auch die „Kirchenblätter“ von Haus zu Haus, bis in die Berge hinauf. Den ältesten Bruder, den späteren Hoferben, habe ich in meiner Kindheit kaum wahrgenommen, weil er wohl immer mit dem Vater unterwegs war. Mit meinem anderen Bruder, der zwei Jahre älter war als ich, spielte ich Fußball, Eishockey, wir interessierten uns für Sport. Später saßen wir öfter nebeneinander auf einer Bank und lasen gemeinsam ein Karl-May-Buch. Das hat mich sehr gestört. Ich wollte die Karl-May-Bücher nur für mich alleine. Was mir dann auch gelungen ist.

Die versteckte Brieftasche


Um mir Bücher kaufen zu können, habe ich auch Geld gestohlen. Natürlich hat mich die Mutter einmal oder öfter erwischt, eher nach einem Verrat. Sie hat dann, ohne mich zu schelten, ihre Brieftasche eine Woche lang versteckt, danach wieder darauf vergessen und dann ging der ganze Zirkus von vorne los. Ich kaufte mir mit gestohlenem Geld „Halbblut“ von Karl May. Die Nachbarin sagte zu meinen Eltern, dass mich Karl May verdirbt. Die Mutter nahm mir das Buch weg, ich habe es ihr einfach wieder aus der Hand gerissen, weitergelesen und hinter dem Radio versteckt. – Damals haben wir aus dem Radio das erste Mal die Beatles gehört.

Uraufführung von "Lass dich heimgeigen Vater" im Burgtheater-Kasino
Uraufführung von "Lass dich heimgeigen Vater" im Burgtheater-Kasino © R. Werner/Burgtheater

Abschied von den Eltern

Als ich mit 14 Jahren „Die Pest“ von Albert Camus lesen konnte und wohl auch vieles beim Lesen darin verstand, wußte ich, dass die Kindheit vorbei war, dass ich dabei war erwachsen zu werden, und wurde erst recht erwachsen, als ich danach neben anderen Klassikern auch „Abschied von den Eltern“ von Peter Weiss las. Sie konnten mir nichts mehr anhaben, die Eltern nicht, das Dorf nicht. Ich war in eine andere, unangreifbare Welt vorgedrungen, ich war nicht mehr fassbar, und den weichen Misthaufen mit den darauf herumliegenden gelben Hahnenfüßen benutzte ich als Sprungturm in die Welt hinaus.

Pünktlich beim Essen


Beim Mittagessen mussten wir ausnahmslos bei Tisch sein, ziemlich genau um 12.30 Uhr. Ich saß zwischen Vater und Mutter, ich war immer eingeklemmt zwischen ihnen, sie waren meine Portalfiguren, links und rechts. Und als Erzministrant mußte ich vor dem Essen beten: „Komm, Herr Jesus, sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast! Amen!“
Da ich körperlich das schwächlichste Kind war, habe ich mich auf die Seite der Mutter „geschlagen“, ich half ihr bei der Hausarbeit, besonders dann als die Älteste, die Schwester, schon außer Haus war. Und als ich zehn Jahre alt war, kam der Nachzügler auf die Welt. Und ich konnte die Macht als Kindermädchen allen anderen gegenüber, auch dem Vater gegenüber, ausspielen.

Schreiben ist Arbeit


Ich musste auch nicht im Stall arbeiten, schaute dann und wann mit dem Kinderwagen auf den Feldern vorbei, ohne einen Handgriff zu tun. Wenn ich eine Arbeit hätte machen sollen, habe ich das Kind in den Kinderwagen gelegt und bin mit ihm davongefahren, ins Dorf hinunter, in die Auen hinaus.
Von meinem Vater habe ich vielleicht die Disziplin übernommen. Ich wusste immer, es fällt nichts vom Himmel, außer Schnee, Regen, Hagel, alles andere muss man sich erarbeiten, erschneien, um es so zu sagen. Schreiben ist Arbeit, heißt es bei Karl Marx.
Mein Vater hat von seinem 4. Lebensjahr bis zu seinem 95. Lebensjahr gearbeitet. Im Alter von 95 Jahren hat er sich noch um 50.000 Schilling einen Traktor gekauft, mit dem er noch zwei Jahre fahren konnte. Dann hat seine Sehkraft nachgelassen. Gestorben ist er im Alter von 99 Jahren. Ich kenne heute einige Dreißigjährige, die sich jetzt schon ihre zukünftige Pension ausrechnen.

Bin ich ein lieber Vater?

Ob ich ein lieber Vater bin und war und eines Tages gewesen sein werde, das zu beurteilen überlasse ich den Kindern. Ich hoffe, und ich bitte sie sogar darum, dass sie mehr lesen, sich schöne Filme anschauen und sich nicht einer Welt hingeben, die es nur als schillernde Seifenblase gibt, und die ich anstatt Instagram „Finstagram“ und „Instagrimm“ nenne. Ja, wenn sie zulange in den narzistischen Spiegel dieser Jauchengrube-Oberfläche, wie ich sie nenne, hineinschauen, sind sie danach oft grimmig und schauen finster, Finstagram und Instagrimm eben.
Ich hoffe, dass die Kinder mehr füreinander da sind, als wir Geschwister es damals waren, dass sie sich verstehen, das ganze Leben über und sich nicht aus den Augen lassen und sich nicht aus dem Weg gehen.