Pffff, das verstört! Es verunsichert und bringt einen doch ziemlich durcheinander. Gerade kommen wir von einem ausgedehnten Fußmarsch aus Stolipinowo zurück, dem größten Roma-Ghetto am gesamten Balkan. An die 45.000 Einwohner zählt dieses riesige Viertel im nordöstlichen Teil von Plowdiw. Eigentlich ist es eine Stadt in der Stadt, eine in tiefster Armut, die im Dreck versinkt und mit Horror-Szenarien wie flächendeckende Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Strom- und Wasserboykott zu kämpfen hat. Umso erstaunlicher und respektabler aber, dass die am Samstag mit einer spektakulären, lichtüberfluteten Multimedia-Show eröffnete Kulturhauptstadt Plowdiw ihr Ghetto vor internationalen Gästen nicht versteckt und den Besuchern schon in ihrer dritten Führung dieses Elend vor Augen führt. In kleinsten Grüppchen zu viert, und fotografieren ist nicht erwünscht!
Projektexpertin Neli Blagova erklärt aber, dass Stolipinowo in rund 50 Projekte des Kulturhauptstadtjahres eingebunden ist. Das funktioniert freilich nur vermittels den Lehrern an den Schulen hier und sogenannter Mediatoren, allesamt Roma, die zwischen den beiden Welten von Plowdiw operieren.
Schon die Marketingdirektorin Radost Ivanova ließ tags zuvor wissen, dass es „nicht das reiche kulturelle Erbe der ältesten Stadt Europas ist“, dass im Fokus des Kulturhauptstadtjahres steht, sondern „die Lösung der Probleme, die wir haben“.
Hut ab! Dazu zählt neben dem Ghetto auch die sogenannte Tobacco-City, ein riesiges Areal an ehemaligen Lagerhallen aus einer Zeit, in der hier der mit Tabak gehandelt wurde. Einige dieser historischen, sehr heruntergekommenen Gebäude wurden bereits renoviert, in einem davon befindet sich etwa auch das SKLAD, das sehr atmosphärische Quartier der bulgarischen Kulturhauptstadt.
Plowdiw selbst steht dieser Tage ganz im Zeichen der Eröffnung dieses für die Stadt historischen Ereignisses, immerhin konkurrierte man mit sieben weiteren bulgarischen Städten um den Titel. Überall in der Stadt, die von archäologischen Ausgrabungen, riesigen römischen Ruinen (allen voran das antike Theater, das Odeon und das römische Stadion) und solchen aus der Zeit, als man noch Philipopolis hieß, geprägt ist, ist das signifikante Blau, das großformatige Motto „Together“ oder das Logo mit den schematischen sieben Hügeln zu sehen. Vornehmlich natürlich in der größten Fußgängerzone Europas (!), wo sich unter anderem, direkt am Eingang in die römische Unterwelt, auch die beeindruckende Freiluftausstellung „From the Berlin Wall to Street Art“ mit den namhaftesten Künstlern des Genres befindet. Neben knallbunt bemalten Trabis, die ebenfalls an die Ereignisse vor 30 Jahren erinnern sollen. Über 500 Projekte werden es am Ende des Jahres sein, die „die Nachhaltigkeit des Kulturjahres sichern und Plowdiw zur neuen Marke machen“ sollen (Ivanova). Und die teilweise erst in Planung sind!