So unbeschwert die Bücher sein mögen, aber leicht haben sie es beide nicht gehabt – weder Pippi noch Astrid, ihre Schöpferin. Als die rotzfreche Seemannstochter Ende des Zweiten Weltkrieges in Schweden das Licht der Welt erblickte, winkten die Verlage zunächst ab. Erst das überarbeitete Manuskript wurde schließlich veröffentlicht. Und als 1949 das erste „Pippi“-Buch in Deutschland erschien, wussten die Erwachsenen auch nicht so recht, was sie von dieser Astrid Lindgren und ihrer verhaltensoriginellen Schöpfung halten sollten. Pippi, diese ungezogene Göre, war anfangs heftig umstritten. Folgende Frage stand im Raum: Was, wenn unsere Kinder plötzlich auch so werden? Nicht auszudenken!
Dass Pippi Langstrumpf genau nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in die Welt krachte, mag ein zeitlicher Zufall gewesen sein, kam der Erfinderin – die während des Krieges als Sekretärin beim schwedischen Nachrichtendienst arbeitete und ein erst viele Jahre später veröffentlichtes „Kriegstagebuch“ verfasste – aber wohl gelegen. Denn mit dem sommersprossigen Rotschopf schuf Lindgren nicht nur ein selbstbewusstes, selbstbestimmtes, kreatives, gewitztes Kind, sondern nichts Geringeres als eine humanistische Widerstandsfigur, die getrieben war von einem schier unbändigen Freigeist und Gerechtigkeitssinn. Nicht Anpassung und Wohlverhalten kennzeichneten diese Figur, sondern Neugier und Lebenslust. Und: Diese Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf – so ihr vollständiger Name – war mit so viel Kraft ausgestattet, dass sie die ganze Welt aus den Angeln hätte heben können. Tat sie aber nicht. Sie nutzte ihre Muckis hauptsächlich dafür, Pferde zu stemmen und lästige Erwachsene zur Seite zu stellen.
Astrid Anna Emilia Lindgren, geborene Ericsson, wurde am 14. November 1907 in eine zwar nicht heile, aber weitgehend intakte Welt hineingeboren. Aufgewachsen auf dem Hof Näs bei Vimmerby im südschwedischen Småland als zweites Kind des Pfarrhofpächters Samuel August Ericsson und seiner Ehefrau Hanna, hat sie ihre Kindheit stets als „besonders glücklich“ beschrieben. Das war der natürliche Humus, aus dem später, neben Pippi, legendäre Figuren wie Michel aus Lönneberga, Kalle Blomquist, Karlsson vom Dach und die Kinder aus Bullerbü erwuchsen. Und als die beiden Eckpfeiler dieser fast märchenhaft anmutenden Kindheit hat Astrid Lindgren später genannt: „Geborgenheit und Freiheit“.
Das Leben als Erwachsene mit all seinen Brüchen und Verwerfungen hat Astrid Lindgren zwar geprägt, aber nie gebrochen. Pippi, Michael, Karlsson & Co. traten einen Siegeszug durch die Kinderzimmer dieser Welt an, die Autorin wurde zur gefeierten und vielfach geehrten Ikone eines allumfassenden Humanismus, der, wie Lindgren stets betonte, ebendort beginnen müsse – in den Kinderzimmern nämlich.
Im Jahr 1978, also knapp 30 Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen der deutschsprachigen Pippi, wurde Astrid Lindgren der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. In ihrer bis heute denkwürdigen Rede sagte die Autorin u.a.: „Ob ein Kind zu einem warmherzigen, offenen und vertrauensvollen Menschen mit Sinn für das Gemeinwohl heranwächst oder aber zu einem gefühlskalten, destruktiven, egoistischen Menschen, das entscheiden die, denen das Kind in dieser Welt anvertraut ist, je nachdem, ob sie ihm zeigen, was Liebe ist – oder aber dies nicht tun.“
Astrid Lindgren starb am 28. Jänner 2002 im Alter von 94 Jahren in ihrer Stockholmer Wohnung, in der sie mehr als 60 Jahre lang gelebt hatte. Bei der Verabschiedung nahmen neben der Königsfamilie und der Regierung Hunderttausende Menschen teil. Und hinter dem Sarg gingen: ein Mädchen und ein weißes Pferd.