Es ist ein kleines Theaterwunder. Und fast wäre es ein großes. Schillers "Don Karlos" offenbarte sich in der Inszenierung der polnischen Regisseurin Barbara Wysocka als eine der besten Produktionen, die unter der 2020 ihren Abschied nehmenden Direktorin Anna Badora im Volkstheater Wien zu sehen waren. Die gestrige Premiere überzeugte fast auf ganzer Linie und wurde zu Recht lange umjubelt.

Die größte Überraschung dieses dreistündigen tollen Abends: Das Ensemble ist sowohl der geschliffenen, nicht eben einfachen Sprache Friedrich Schillers als auch dem verzwickten Intrigenspiel am spanischen Hof zur Gänze gewachsen. Differenzierte, vielschichtige Figuren erzeugen in ihrer Konfrontation eine Intensität, die den Zuschauer dem Geschehen fast atemlos folgen lässt.

Günter Franzmeier liefert eine beeindruckende Leistung. Er zeigt als Philipp II., dass ihm die Rolle des absolutistisch regierenden Königs ebenso perfekt sitzt wie sein vorzüglich geschnittener Anzug. Aus einem schneidend kalten ersten Auftritt in Aranjuez, bei dem er seine Gemahlin vor dem ganzen Hofstaat bloßstellt, entwickelt er eine zerrissene Figur: Der unnahbare, harte Souverän in der Öffentlichkeit, der reichste und mächtigste Mann der westlichen Welt; bemüht jovial, doch stets argwöhnisch im Umgang mit seinen engsten Untergebenen und seiner Familie; auf sich zurückgeworfen erweist er sich als einsamer Gefangener von Verpflichtungen und Konventionen.

In einer der originellsten Szenen dieser nicht auf Bildfindung sondern auf Schauspielerführung konzentrierten Inszenierung, mit der Wysocka ihr Wien-Debüt feiert, begibt sich Philipp auf die verzweifelte Suche nach einem einzigen möglichen Vertrauten. Er konsultiert die Personalakten und reißt eine Seite nach der anderen aus dem Ordner: "Tot!", "Besser tot!", "Was will der hier? Ich werfe ihn zu den Toten..." In seinem Telefonverzeichnis wird er schließlich fündig: Ein Marquis von Posa, ein verdienstvoller Ritter, der nie etwas für sich erbeten hat? Der interessiert ihn. Und schon steht er in der Türe.

Sabastian Klein hat als Posa fast immer eine braune Reisetasche in der Hand, deren Rätsel nie gelöst wird - ein klassischer MacGuffin, der sein Geheimnis selbst dann nicht preisgibt, als der König selbst jene Frage formuliert, die sich auch der Zuschauer stellt: "Was ist denn in dieser Tasche?" Es bleibt einer der wenigen Momente der Aufführung, in denen sich die Spannung in Gelächter entladen darf. Klein ist ein blitzgescheiter, sehr direkt und autonom agierender Posa, schlüssiger Weise eine heutig wirkende Figur, bei der man nie weiß, was tatsächlich der innerste Antrieb für ihre Schachzüge in dem gefährlichen Spiel ist, das sie rasch ins Herz der Macht und der Finsternis führt. Dort das Licht der Aufklärung zu entzünden ist es jedoch, Schiller formuliert es kurz vor der Französischen Revolution verblüffend hellsichtig, noch um einiges zu früh.

Lukas Watzl ist der Titelheld, der junge Kronprinz, dem seine Geliebte vom eigenen Vater genommen und als Stiefmutter zurückgegeben wurde. Doch er kann nicht aufhören zu lieben. Welch ein Drama! Watzl gibt dem glänzend gebauten "dramatischen Gedicht" die private Note: Er ist ein ungestüm und verzweifelt Liebender, ständig im atemlosen Lauf unterwegs, seine Sache voranzutreiben, und sich dabei ständig die Kopf anrennend. Jene Freiheits- und Menschenliebe, für die sein Freund Posa ein politisches Programm entwirft, ist ihm ein emotionales Bedürfnis, unbestimmt, diffus, doch leidenschaftlich. Davon lässt sich der Absolutismus nicht beeindrucken.

Auch rundherum ereignet sich Überzeugendes: Evi Kerstephan verbindet in ihrer Königin Elisabeth Loyalität und Rebellion, Gehorsamkeit und Verzweiflung, Spanien und Frankreich zu einer schlanken, glaubhaften, jederzeit um Haltung bemühten Figur; Steffi Krautz ist ein leidenschaftlich intriganter Herzog Alba, dem Stefan Suske als Beichtvater in Verlogenheit kaum nachsteht, Jan Thümer ein Graf von Lerma, der in diesem Intrigenspiel Gefahr läuft, zerrieben zu werden.

Dass Isabella Knöll in Frisur, Kostüm und Habitus mehr einem aufgeregten Schulmädchen, einer hysterischen Dienstmagd gleicht als einer attraktiven Hofdame, die, vom König begehrt, vom Prinzen zurückgewiesen, unversehens selbst zur wichtigen Figur in diesem Machtspiel wird, ist einer der wenigen Schwachpunkte des Abends. Als Prinzessin Eboli wirkt sie wie eine Fehlbesetzung.

Zwei weitere Einwände, die verhindern, dass diese Produktion als ganz großes Theaterwunder in die Volkstheater-Annalen eingehen kann: Die Bühnenlösung Barbara Hanickas vermittelt mit durchbrochenen Betonwänden, die sich auf der Rückseite als bloße Theaterkulissen erweisen und die als Projektionsfläche für Schlüsselsätze des Stücks dienen, kein starken, eigenständigen Eindruck, der sich mit der Intensität des Schauspiels zu einem bleibenden Nachbild verdichtet. Außerdem droht nach der Pause die Konzentration des Geschehens gelegentlich zu zerfleddern und zu zerfallen, geht dem Ensemble ein wenig die Puste aus.

Erst Florentin Groll als Großinquisitor bringt am Ende wieder jene Brutalität zurück, mit der das Spiel begonnen hatte. Philipps Kampf um den eigenen Sohn ist ein Scheingefecht. Er wird ihn der kirchlichen Autorität preisgeben und damit den eigenen Kopf retten. Stärker als die Gier, an die Macht zu kommen, ist nur noch der Drang, an der Macht zu bleiben. Und so vermittelt sich der Anspruch, mit dieser Inszenierung auch einen Kommentar zu unserer politischen Gegenwart abzugeben, ganz ohne Zeigefinger. Ein großer Abend.