Gewiss mag es reiner Zufall sein. Evident ist in jedem Fall, dass sich zwei herausragende Romane dieses Jahres dem Thema Zeit widmen. John Wray tut dies in seinem Epos „Das Geheimnis der verlorenen Zeit“, Christoph Ransmayr begibt sich in seinem neuen Roman „Cox oder Der Lauf der Zeit“ auf ähnliche Wege. Wenngleich mit gänzlich anderen stilistischen und literarischen Mitteln. Das Ergebnis aber ist da wie dort gleich: atemberaubende, virtuose Erzählkunst, die Bestand, Dauer und bei Ransmayr außerdem zeitlose Gültigkeit hat.

Geniales Wechselspiel

Relativ leicht und plakativ-vordergründig ließe sich auf Ransmayrs Zeitreise, die ins 18. Jahrhundert und mitten hinein ins Zentrum der unumstrittenen Weltmacht China führt, das Etikett Abenteuerroman anbringen. Aber nur, wenn man Werke von Joseph Conrad als Maßstab nimmt, mit dem sich der oberösterreichische Autor von Weltgeltung auf Augenhöhe befindet. Durch seine Fähigkeit, vergängliche Erscheinungen in all ihren Schattierungen aufblühen zu lassen, sie mit der gesamten, in ihnen hausenden Macht und Ohnmacht zu neuem Leben zu erwecken.
Ransmayr gelingt ein geniales Wechselspiel zwischen Fakten und Fiktionen. Der britische Uhrmacher und Automatenhersteller Alister Cox (für den der reale James Cox Pate stand) wird von Qiánlóng, dem damaligen Kaiser von China, eingeladen, ihm einen lange gehegten Wunsch, mehr noch, seinen größten Traum zu erfüllen.

Wortschatztruhe

Mit einzigartigem Gespür für Lokalkolorit und mit magisch-düsterer Spannung nimmt Ransmayr seine Leser mit nach Bejng und in die Verbotene Stadt. Qiánlóng ist kein Machtrausch fremd. Als „Gottgleicher“ lässt er sich huldigen, als „Herr der zehntausend Jahre“ vergöttern.
Tatsächlich führt der Monarch ein Horrorregime; rigoros abgeschirmt, unnahbar, launenhaft, mit Todesstrafen rasch zur Hand. Allein schon die Art und Weise, wie Ransmayr die erste, an absurden Ritualen reiche Begegnung zwischen Cox und Qiánlóng schildert, ist ein poetisches Prunkstück in dieser prächtigen Wortschatztruhe. Die Geschichte mündet in die Aufforderung an Cox, dem Kaiser ein Perpetuum mobile zu bauen. Ransmayrs Roman aber führt weiter. Er steht gleichnishaft für aktuelle, manische Despoten; der Zeit, den Menschen entrückt, herrschsüchtig, aber bereits zu Panikattacken neigend, wenn in ihrem Umkreis jemand niest.

Dämonische Wunder

„Cox“ ist Wunderwerk und Werk dämonischer Wunder zugleich. Es vollendet ein literarisches Grundgebot: Durch die Kraft und Magie des geschriebenen Wortes alle unsere Sinne zu mobilisieren. Und zu belegen, dass nur das Erzählen sich über alle Zeit hinwegsetzen kann. Die Zeit und das Immer – Ransmayr liefert die gloriose Entsprechung.           WERNER KRAUSE