Dieser Mythos hält sich hartnäckig: Ein glücklicher Mensch gibt keinen guten Musiker ab, nur wer leidet, der schafft Großes. Herbert Grönemeyer, der Mann aus Bochum mit der hohen Stirn und den ebenso hohen Ansprüchen an sein Werk, zeigt, dass das nicht stimmen muss. "Dauernd jetzt" ist in jeder Hinsicht ein typisches Grönemeyer-Album, nicht nur wegen des verqueren Titels. Aber was bedeutet dieses "typisch" genau?

In Summe ist das Werk nicht so extravagant wie "Bleibt Alles Anders", nicht so introvertiert wie "Mensch", nicht so zerfahren wie "Zwölf" und nicht so schwer wie "Schiffsverkehr". Manche Fans bestätigen eine Rückkehr zur Form - auch wenn das nicht stimmt: Der 58-Jährige war nie außer Form, seine letzten Alben waren allerdings Spiegel seines Seelenzustandes. Selbst, als ihn das Leben durch den Tod seiner Ehefrau und seines Bruders verwüstete, gab er nicht auf. Und seine geliebte Musik schon gar nicht. Damals meinte er auf die Frage, wie es ihm gehe: "Mir geht es gar nicht." Diese Wunden blieben und bleiben, seit geraumer Zeit ist der Mann aus Bochum aber mit einer Schweizerin liiert, glücklich und "ballastfrei." Man hört es raus und man gönnt es ihm.

Was bietet "Dauernd Jetzt"? Mit "Morgen" beginnt es in Moll, verhalten, danach wird es meist ziemlich Dur. Grönemeyers jahrzehntelang bewährte Stammband rockt geradlinig und beherzt, und das durchwegs international. In seinen Texten bietet der Künstler die gewohnte Mischung aus Ecken und Kanten, Vorsprüngen und Abgründen, Witz und Aberwitz, Zärtlichkeit und Härte. Mit seiner Heimat geht er scharf ins Gericht, ebenso mit der "digitalen Diktatur" (im Titel "Uniform"). "Verloren" und "Ich Lieb Mich Durch" sind die von den Fans heiß geliebten sanfteren Momente, mit viel Schubert-Klavier und zarter Akustikgitarre. Ab und zu wird es vielleicht ein wenig zu wuchtig und ob man dem deutschen Fußballnationaltrainer in einem Lied unbedingt ein Denkmal bauen muss, sei auch dahingestellt ("Der Löw war los, sie waren grandios", meint er in "Der Löw").

Man könnte auch sagen: Grönemeyer ist das deutschsprachige Patentrezept für Gefühl in Musikform, der ganz eigene Kontinent Grönland. Das attestieren ihm sogar jene eher missgünstigen Kritiker, die mit seiner zugegeben einschneidenden Stimme Fliesen reinigen und Insekten abwehren wollen. Das 14. Studioalbum ist in Summe eine dichte, gelungene Sache. Hochwertig und klangsatt produziert, rund und ziemlich lebensbejahend - ohne dabei die dunklen Seiten des Daseins auszublenden. Wie denn auch, bitte?

Solange kein besseres Seelenthermometer gefunden ist, bleibt Grönemeyer der poetische Fels in der Brandung namens Leben. Im Juni 2015 dann in der Wiener Stadthalle.

8 / 10

THOMAS GOLSER