20 Jahre nach dem Zerfall Jugoslawiens hat sich auch die literarische Landschaft am Balkan verändert. Die österreichische Literaturwissenschafterin, Übersetzerin und Spezialistin für jugoslawisches und post-jugoslawisches Schreiben Elena Messner arbeitet derzeit mit einem Forschungsstipendium in Belgrad. Im APA-Mailinterview beschreibt die junge Forscherin, die auch den Serbien-Schwerpunkt bei der Leipziger Buchmesse koordinierte, die Rolle der Literatur in der Aufarbeitung des jugoslawischen Zerfalls und die "voyeuristischen" Erwartungen des Westens an die Kriegsliteratur.

Der Zerfall Jugoslawiens ist 20 Jahre her. Inwiefern hat die Literatur eine Rolle bei der Bewältigung der Ereignisse gespielt?

Elena Messner: "Bewältigung" wäre wohl das falsche Wort, wenn man über Literatur zu dem Thema spricht. Damit würde viel zu optimistisch suggeriert, dass in der Region Literatur erfolgreich dazu beigetragen hätte, das Konfliktpotenzial zu "beseitigen" und damit einen Großteil der Bevölkerung zu kritischem Umgang mit nationalistischen bzw. rassistischen, klerikalen, patriarchalen oder sexistischen Inhalten bewegt hätte, die ja die geistige Basis der Kriege waren. Damit wäre die Rolle der Literatur zu positiv bewertet. Ich würde sagen, dass Literatur als Reflexionsmedium von Politik ein kritisches Bild davon vermittelt, wo die heutigen postjugoslawischen Gesellschaften stehen.

Welchen Stellenwert genießen politisch engagierte Autoren im Literaturbetrieb am Balkan?

Messner: Es gibt zahlreiche Autoren, die sowohl kulturpolitisch aktiv sind als auch in ihren Texten gesellschaftskritische Themen aufgreifen. Sie thematisieren v.a. die 90er und deren negatives Erbe und die Fortsetzung grundlegender Konflikte, die heute nach wie vor nationalistischen orientierten Politik oder auch Probleme der Transition und des neuen Turbokapitalismus. Erfreulicherweise sind heute auch viele Verlagshäuser, Literaturzeitschriften und Festivals, die wieder mehr denn je jugoslawienweit Autoren publizieren und versammeln, bewusst als alternative Kulturpolitik angelegt, die das Gemeinsame vor das Trennende stellen. Eine antinational ausgerichtete Literatur, die darauf abzielt, kollektive Verantwortung für Verbrechen zu thematisieren ist eines der wichtigsten Normalisierungsinstrumente in einer Region, die sich nach dem Krieg sehr schwertut, den Nachbarn nicht als Bedrohung zu erleben - oder als solchen zu inszenieren.

Welche zentralen Autoren wären etwa aus Bosnien zu nennen?

Messner: In Bosnien nimmt die sogenannte Kriegsliteratur den größten Raum ein, was kaum verwundert. Dort prägte der Krieg den militärischen wie den zivilen Alltag gleichermaßen, forderte die meisten Opfer und verursachte die größten Zerstörungen. Nimmt man von "ethnischen" Kategorien Abstand - die Autoren könnte man auch einem serbischen, kroatischen, bosniakische Kanon zuordnen - wären etwa Alma Lazarevska, als eine der literarisch herausragendsten Stimmen, Aleksandar Hemon, der mittlerweile in Amerika lebt und auf Englisch schreibt, Nenad Velickovic, oder Miljenko Jergovic, oder auch Vladimir Pistalo, Boris Dezulovic, Faruk Sehic, Selvedin Avdic zu nennen, wie auch die eine jüngste Generation repräsentierende Autorin Lamija Begagic.

Wie sieht es in Serbien mit gesellschaftskritischen Stimmen aus?

Messner: Unter den Autoren, die in Serbien konkret regime- bzw. gesellschaftskritische Themen aufgegriffen haben, ist als einer der ersten Vladmir Arsenijevic mit seiner bereits 1994 in Belgrad publizierten "Cloaca Maxima" zu nennen. Auch Srdan Valjarevic stellt einen Kultautoren in diesem Feld dar. Svetislav Basara parodiert sehr amüsant die nationale Euphorie und die paranoiden Ängste bzw. Weltverschwörungstheorien im Serbien der 90er. Dragan Velikic hat sich v.a. in zahl- und umfangreichen präzisen Essays zu politischen Fragen seit Anfang der 90er zu Wort gemeldet, David Albahari thematisiert sein kanadisches Exil, Bora Cosic äuerte sich sehr kritisch und ging ebenfalls ins deutsche Exil. Radmila Lazic war selbst nur in der Antikriegsbewegung aktiv, und schrieb engagierte Poesie. Politisch relevante Autoren,wie Mileta Prodanovic, Sreten Ugricic, Sasa Ilic, Srdjan V. Tesin, Dragana Mladenovic, Matija Andric, Aleksandar Novakovic und Mica Vujicic, deren Texte bereits mehrfach Diskussionen auslösten, warfen zum Beispiel allein in den letzten 12 Monaten Bücher auf den Markt, die letzten vier stellen einen Teil jener jüngsten Generation in Serbien dar, die eine Auseinandersetzung mit den 90ern fordert.

Und eine Auswahl von Autoren aus Kroatien?

Messner: Konkret politische Themen nehmen in Kroation etwa Slavenka Drakulic, Predrag Matejevic und Dubravka Ugresic auf, wobei Ugresic nicht nur die international erfolgreichste ist, sondern auch mit größter Klarheit gegen ein nationalistisches Tudjman-Kroatien auftrat und in Folge von Hetzkampagnen das Land verließ. Die kritisch realistische Prosa von Jurica Pavicic wäre auch zu nennen, oder der Verleger und Autor eines sehr kritischen Kriegsromans Viktor Ivancic, sowie Autoren wie Nedjelko Fabrio und Zoran Feric, während weibliche Stimmen auf Strukturen von Gewalt und Alltagsleben in der (Nach-)Kriegszeit fokussieren: etwa Vedrana Rujan, Julijana Matanovic oder Ivana Sajko.

Mit der Festnahme von Ratko Mladic wird nach 20 Jahren ein wichtiges Kapitel neu aufgeschlagen. Wie reagieren serbische Intellektuelle?

Elena Messner: Bei jenem Teil der Bevölkerung, die Serbiens Zukunft weiterhin auf einem demokratischen Weg Richtung EU sieht, ist die Verhaftung zweifelsohne ein Akt, der allzu lange ausständig blieb und nun mit verhaltener Freude aufgenommen wird. Aber anstatt großer (Selbst-)Zufriedenheit, die sich breitmacht, stellen Intellektuelle und Autoren in Kolumnen, Radio- und Fernsehsendungen oder Gesprächen teils mit Sarkasmus, Wut oder Nüchternheit neu-alte Fragen.

Zum Beispiel?

Messner: Der Autor Dragan Velikic meint etwa, dass die Festnahme zwar längerfristig eine Stabilisierung in der Region bringen wird, dass aber rasch auch sichtbar wurde, wie stark jene anti-europäischen und nationalistischen Kräfte sind, die sofort mit Protestaktionen und Blockaden auf den "Verrat" der Regierung reagierten. Davon abgesehen stellt er die - mittlerweile zum Witz mutierte - Frage danach, wie es möglich sein konnte, dass ein international gesuchter Kriegsverbrecher sich in einem kleinen Dorf in der Vojvodina so lange vor dem angeblich ihn eifrig suchenden Staatsapparat verstecken konnte - vor acht Millionen, wie Velikic es fomuliert, stummer Zeugen.

Auch die Dramatikerin Biljana Srbljanovic äußerte sich in einer Kolumne scharf, dem Präsidenten Tadic zu seiner "gelungenen Dramaturgie" gratulierend. In einer Art Inszenierungsanalyse kritisiert sie sowohl den Auftritt Mladics als armer, todkranker, erdbeeressender Mann, der Mitleid und Bewunderung für sich und sein Versteckspiel fordert, als auch den Barack Obama nachempfundenen Auftritt des serbischen Präsidenten nach der Verhaftung. Der Autor Svetislav Basara schreibt in seiner Kolumne in "Danas" satirisch über die Medienberichterstattung zu dem Ereignis, und teilt mit anderen v.a. die Meinung, dass gerade der Medienrummel mit seiner Überfülle an neuen Informationen schnell von den wichtigen Fragen ablenken könnte: Warum erst jetzt? Wer hat Mladic geschützt, wem hat das genützt?

Wie wird ein kritisches Serbien heute und damals im In- und Ausland gehört?

Messner: Radmila Lazic war eine der Intellektuellen während der 90er, die dem Milosevic-Regime Widerstand leistete, ein Zeugnis davon sind etwa die bei Suhrkamp erschienen "Briefe von Frauen über Krieg und Nationalismus". Sie betont etwa, dass es damals durchaus eine Mehrheit kritischer Intellektueller gegeben hätte, die aber niemals genügend mediale Aufmerksamkeit erhielt. Denn während jene intellektuellen Kreise, die Milosevic unterstützt haben, ihre Medienmacht nutzten, um omnipräsent zu sein, mussten antimilitaristisch orientierte Intellektuelle medial isoliert arbeiten, und wurden auch im sog. "Westen" gerne übersehen. Der spannende Gedichtband der Autorin wurde z. B. erst dieses Jahr im Rahmen des Serbienschwerpunktes auf der Leipziger Buchmesse übersetzt.

Wollte man im "Westen" überhaupt etwas anderes lesen als Kriegsliteratur?

Messner: Der Krieg führte in den 90ern zu einem Boom an Übersetzungen und es wurden v.a. Bücher mit Kriegsthematik, dabei nicht immer unbedingt die besten publiziert. Der deutschsprachige Markt und die Medien haben ein fast perverses, voyeuristisches Interesse an Kriegstexten an den Tag gelegt, und im Sinne einer ausdrücklichen Aufarbeitung der Geschehnisse scheint man auch von Autoren der Region mehrheitlich solche Texte zu erwarten, reduziert sie immer noch gerne auf diese Thematik.

Wie könnte man den Blick beschreiben, den die ex-jugoslawische Literatur in die Zukunft wirft?

Messner: Die ex-jugoslawische Literatur gibt es nicht im Singular, die Texte sind so unterschiedlich wie deren Autoren und zeugen damit zumindest von einer Demokratisierung des Literaturbetriebs. Teilweise haben aber vielleicht Träger nationalistischer Ideologien auch gelernt, sie besser zu verstecken oder durch neutralere Rhetorik und Themen zu überdecken. Auch sind andere, neue Hierarchien am Werken, Marktgesetze, neue Medientycoons, neue Machtzentren. Aber Autoren jener Literatur, die weitab von folkloristisch-nationalem Pathos ihre anderen Geschichten erzählen möchte, nehmen sicherlich mehr Platz als je zuvor in der Öffentlichkeit ein. Die Zahl publizierter politisch wie literarisch spannender Bücher ist erfreulich, das ist auch auf die gestärkte pluralistische Verlagslandschaft, regionale Preise und Zeitschriften und tolle gesamtjugoslawisch oder europäisch orientierte Festivals in der Region zurückzuführen.