L iteraturpapst Marcel Reich-Ranicki war sich sicher: Joseph Roths "Radetzkymarsch" ist ein Meisterwerk, das zum Kanon der 20 bedeutendsten deutschen Romane zählt. Bis heute ist die Geschichte um die Familie Trotta Roths meistgelesenes Buch, erlebte zig Auflagen mit mehr als einer viertel Million verkauften Exemplaren. Trotz kritischer Untertöne strahlt die zerbrochene Habsburgermonarchie in dieser wehmütigen Beschwörung in einem versöhnlichen, goldenen Licht.

Der sentimentale Chronist einer untergegangenen Zeit oder gar der Verkünder eines restaurativen Mythos war Roth aber nicht. Denn in den unruhigen Zwanziger Jahren zählte der in Galizien geborene Roth zu den gefragtesten Journalisten und Feuilleton-Autoren österreichischer Provenienz. 1920 praktisch mittellos nach Berlin übersiedelt, rissen sich bald deutsche Großzeitungen - wie der Berliner "Börsen-Courier" oder die renommierte "Frankfurter Zeitung" - um seine brandaktuellen Beiträge, die in puncto Genauigkeit der Beobachtung und Eleganz des Ausdrucks neue Qualitätsmaßstäbe setzten. Die Themen entsprachen dem bewegten Leben der Metropole: soziale Missstände, politischer Größenwahn und die Auswüchse der Unterhaltungsindustrie. Mit lakonischen Bemerkungen und literarischen Analysen fing Roth den rasanten Puls dieser Zeit ein.

Ab 1926 unternahm er ausgedehnte Reisen, unter anderem ins kommunistische Russland. Obwohl bereits zum Starreporter und literarischen Großverdiener avanciert, litt Roth aufgrund seines mondänen Lebensstils und seiner Alkoholexzesse unter chronischem Geldmangel. Seine ökonomische Lage verschlechterte sich aber erst drastisch, als er 1933, am Tag von Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, nach Paris ins Exil fliehen musste. Dort sah er sich zusehends als Dinosaurier, als einen Abkömmling der verlorenen Zeit der Monarchien und Königreiche.

Im belgischen Ostende traf er 1936 auf Irmgard Keun, selbst exilierte Schriftstellerin, mit der ihn nicht nur die Liebe zur Literatur, sondern auch die zum Alkohol verband: "Die beiden saufen wie die Löcher", notierte der "rasende Reporter" Egon Erwin Kisch.

"Die Legende vom heiligen Trinker" kommt als sein letztes Werk einem resignativen Bekenntnis gleich: Der Alkoholiker Andreas findet erst im Tod Erlösung und Heimat. Am 27. Mai 1939, genau heute vor 75 Jahren, folgte Roth, vom Alkohol stark zerrüttet, im Armenspital seinem erdachten Protagonisten nach.